MATRIX 3/2014 (37) • 100 Jahre Erster Weltkrieg

M_37_1Seismogramme des Kriegsalltags

Eine Fata Morgana schien die endgültige Fassung dieser MATRIX-Ausgabe zu sein: Sie wuchs und wuchs und wuchs und wir mussten irgendwann STOPP! sagen, sonst hätte sie alle vorstellbaren Rahmen gesprengt. Das 100-jährige Gedenken an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist eigentlich vorbei, doch angesichts der heutigen Realität sollten wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Es lässt sich nicht ohne Weiteres verdrängen, dass wir Bürger eines Landes sind, das in der Vergangenheit heftig vom Kriegsfiebervirus erwischt wurde und dadurch sich selbst und der Welt unvorstellbares Leid und Schaden zugefügt hat. Dennoch sieht es so aus, als wollten sich unsere Volksvertreter auch bei diesem Anlass trotz des weltweit ausgebrochenen Erinnerungsfiebers eher zurückhalten. Doch das Gedenken an die Tragödie – so unbequem es sein mag – beinhaltet auch eine Chance. Es liegt an uns, diese Gelegenheit zu nützen. Was natürlich nicht leicht ist in Zeiten der Kriegsrhetorik, des Nationalismus, Dschihadismus etc., aber immer noch möglich. So lange, wie uns die Zeit reicht.
Dass durch eine Reihe von peinlichen Pannen und grotesken Lügen, durch eine unglaubliche Mischung von guten und schlechten Absichten, von verborgenem und sichtbarem Willen, über Nacht ein Weltkrieg entstand, ist Gott sei Dank geklärt: nichts Nennenswertes, nichts Ideelles, nichts Zukunftsweisendes dahinter – und trotzdem ein Weltkrieg. Die kleinlichen Querelen, die Nichtigkeiten und die dazugehörige unfähige, aus der Zeit gefallene Diplomatie wirken auf mich sonderbar aktuell. Warum interessiert sich heutzutage niemand für die Haufen von internationalen und nationalen Lügen, von willkürlichen Interpretationen, von ethnozentristischen Gedanken, frage ich immer öfter, ohne eine Antwort zu finden. Deswegen höre ich aber nicht auf, weiterhin zu fragen – weil ich immer noch an Recht, Gerechtigkeit, Fortschritt und Freiheit glaube. Ich weiß, ich weiß, auch die Barbarei führt die Argumente „Recht, Gerechtigkeit, Fortschritt und Freiheit“ im Munde. Dies entschuldigt aber nicht unser Zögern, Wegsehen und Schweigen. Denn selbst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs haben sich die kriegerischen Handlungen – ob sie Panama, Vietnam, Irak, Jugoslawien, Afghanistan, Ukraine heißen, um nur einige Desaster aufzulisten – fortgesetzt. Auch die gegenwärtige Isolierung Russlands weckt Befürchtungen. Mehr vielleicht als alle anderen Konflikte, die fast alle Regionen der Welt entzündet haben. Dem Zusammenhang zwischen dem heutigen weltpolitischen Aufrüsten und dem Ersten Weltkrieg wird aber immer noch kaum Beachtung geschenkt. Wegen des größten wirtschaftlichen Erfolgs aller Zeiten – namens Waffenindustrie?
Zeitzeugen der damaligen blutigen Kämpfe gibt es nicht mehr. Die schrecklichen Geschehnisse geraten zunehmend in Vergessenheit. Was bleibt, sind die Schauplätze. Die Wege der Erinnerung 14–18, wie die Franzosen sie genannt haben. Kriegs-Tourismus: Was für eine makabre Beschäftigung, dachte ich, als ich quasi ohne Vorwarnung mitten auf einen solchen Schauplatz der blutigen Stellungskämpfe geriet. Nun weiß ich, dass sich die Gegner in einem Abstand von wenigen Metern gegenüberlagen. Sie haben sich gegenseitig beobachtet, gesehen, gehört. Eigentlich haben sie in diesen engen Stellungen zusammen gelebt, sind hier zusammen gestorben. Wussten sie auch warum?

Klaus Martens schreibt in seinem Essay: „.. uns geht die allzu wenig beachtete literarische Seite der laufenden Diskussionen an, vor allem die Opfer der Kämpfe auf allen Seiten der Fronten: Georg Trakl, Ernst Stadler, Alfred Lichtenstein, August Stramm, Wilfred Owen, Rupert Brooke, Guillaume Apollinaire, Charles Péguy – wir kennen die Namen, diese und viele andere. Aber auch Überlebende wie Gottfried Benn und Ernst Jünger, deren Werke direkt oder indirekt nie davon loskamen.“
Die kleine Werkauswahl ergänzen literarische und historisch-analytische Beiträge von Axel Kutsch, Richard Wagner, Horst Samson, Otto Alscher, Dieter Schlesak, Gabriele Frings, Peter Ettl, Norbert Sternmut, Thomas Kade, Gisela Hemau, Franz Heinz, Katharina Kilzer, Manfred Pricha, Hans Schneiderhans, Peter Frömmig, Sander Wilkens, Rainer Wedler, Barbara Zeizinger, Francisca Ricinski und Charlotte Ueckert – als ein Versuch, uns die damaligen Ereignisse künstlerisch nahezubringen. Dass ein solches Unterfangen nicht einfach ist, trotz (oder wegen?) der 100 Jahre, die dazwischen stehen, beweist die simple Feststellung unseres Autors Frank Milautzcki über Rudolf Börsch: „Ob er in Galizien oder in Frankreich den Tod suchte und fand, bleibt vorerst offen.“
Als Rahmen habe ich einige Fotos ausgewählt – und füge hier als Kommentar hinzu: Was bleibt, ist der Rasen, mit schmucklosen Kreuzen übersät. Einige davon sind aus Metall und schwarz, so sah es der Versailler Vertrag für alle deutschen Gefallenenfriedhöfe vor. Dazwischen Steinstelen für die gefallenen jüdischen Soldaten, die für Deutschland gekämpft haben.

Entgegen allen kriegerischen Handlungen erlauben wir uns weiterhin, an Literatur und Kunst zu glauben. Wir feiern also mit Theo Breuers Essay „Wie eine Lumpensammlerin“ das runde Geburtsdatum Friederike Mayröckers, unser China-Korrespondent Ulrich Bergmann eröffnet seine Reihe „Die Monde der gelben Mitte“ und Horst Waldemar Nägele feiert mit uns den 250. Geburtstag des dänisch-deutschen Dichters und Philosophen Jens Immanuel Baggesen.
Unser Atelier bietet diesmal „An imaginary conversation“ (zwischen Tycho Brahe und Johannes Kepler), das erste Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen Jean-Patrick Connerade (pen-name Chaunes) und unserem Redakteur Uli Rothfuss, sowie neue Texte von Jürgen Kross, Martina Hegel, Andreas Noga, Edith Ottschofski und Gerhard Bauer. Der Debütant diese Ausgabe, Thomas Reeh, stellt sich mit einem Prosastück vor: „Es ist alles unwahr oder 10 Liebesbegegnungen“. Jede Menge neue Bücher rezensieren Theo Breuer, Johann Holzner, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss, T. T. Pop, Dieter Mettler, Benedikt M. Trappen und Jo Weiß. Peter Frömmig hat für uns die Ausstellung „Reisen. Fotos von unterwegs“ im Literaturmuseum der Moderne in Marbach angeschaut. Und Aufmerksamkeit verdienen auch die Materialien in unserem Forum, für die Klaus Staeck, Horst Samson und Wolfgang Schlott zeichnen.

Wir wünschen Ihnen – trotz des schwierigen Themas – eine angenehme Lektüre!

T. Pop

Es signiert:

• Barbara Zeizinger • Gabriele Frings • Rudolf Börsch • Wilfred Owen • Georg Trakl • August Stramm • Robert Frost • Richard Wagner • Klaus Staeck  • Horst Samson • Horst Waldemar Nägele • Gisela Hemau • Axel Kutsch • Klaus Martens • Otto Alscher • Dieter Schlesak • Franz Heinz • Rainer Wedler• Manfred Pricha • Norbert Sternmut • Gerhard Bauer • Charlotte Ueckert • Jean-Patrick Connerade/Chaunes • Uli Rothfuss • Peter Frömmig • Peter Ettl • Thomas Kade • Sander Wilkens • Martina Hegel • Edith Ottschofski • Jürgen Kross • Andreas Noga • Ulrich Bergmann • Johann Holzner • Theo Breuer • Jo Weiß • Traian Pop Traian • Benedikt M. Trappen • Hans Schneiderhans • Katharina Kilzer • Francisca Ricinski • Dieter Mettler • Wolfgang Schlott •

Matrix 3/2015 (41) • Nikolaus Berwanger


MATRIX_41_A
…Was würden wir rumänischsprachigen Schriftsteller / ohne die deutschsprachigen anfangen, / fragte sich Mariana Marin … (Wir sind frei), schrieb ich 1998, fünfzehn Jahre später.

Nikolaus Berwanger war damals für mich kein Unbekannter, aber er zählte nicht zu jenen, an die ich dachte, als ich am Schluss der Preisverleihung des Schriftstellerverbandes meinen Freund, den berühmten Literaturhistoriker und Kritiker Cornel Ungureanu, nach den nicht anwesenden deutschsprachigen Autoren fragte, ohne eine Antwort zu erwarten, denn allen war bereits klar, „dass die Deutschen uns für eine bessere Welt verlassen“: Den Anfang hatte doch schon der große Protektor Berwanger selbst gemacht. Ich war damals von den Texten der deutschen Kollegen begeistert – ohne Deutsch zu können –, da sie zum Großteil als Interlinearversionen für mich zugänglich waren. Dennoch wusste ich, dass sich hinter Berwangers prächtiger Gestalt, die mir ab und zu – dank meines Nebenjobs bei einer Literaturzeitschrift – über den Weg lief, viel mehr verbarg, als von außen zu sehen war: Mundartschriftsteller und höherer Parteifunktionär – echte Schimpfworte für uns, die wir gegen die Tradition und die Parteilinie schwammen –, dessen Position (mit den dazugehörigen Beziehungen) ihm ermöglichte, alles zu erledigen; ein Opportunist, der sowohl von den Deutschen (Westen inklusive) als auch von den Rumänen alles verlangte und bekam. Was für ein Kurzschluss, was für ein Irrtum!
Seine Texte sowie die Aussagen vieler Zeitzeugen, die Horst Samson – de facto Herausgeber dieser MATRIX-Ausgabe – hier gesammelt hat, bestätigen nun nicht nur, wie wichtig für mich und meine rumänischen, ungarischen, serbokroatischen Kollegen der Kontakt zu den deutschsprachigen war (lesen Sie dazu die Beiträge von Mária Pongrácz, Ildico Achimescu, Pia Brînzeu), sondern auch, dass ich ein besonders großes Glück gehabt habe, in der Nähe solcher Persönlichkeiten zu leben. Nun, da Nikolaus Berwanger in diesen Tagen 80 Jahre alt geworden wäre, versuchen wir – wie Richard Wagner, einer der besten Schriftsteller, die ich kenne, schreibt –, „etwas in Gang zu setzen“: „Es geht auch um die Lehren, die aus dem Blick auf das Leben eines Nikolaus Berwanger zu ziehen sind. Wenn ein Berwanger im Zeichen der Kontrolle und des Verbots etwas in Gang setzen konnte, so sollten auch wir, die wir jetzt im Zeichen der Verführung leben, der Manipulation, etwas bewegen können.“
Sie werden es uns bestimmt nachsehen, dass dieses Heft so umfangreich geworden ist – doch wenn wir alles, was wir zunächst sammelten, veröffentlicht hätten, wäre es mehr als doppelt so dick geworden. Wir hoffen, dass wir mithilfe der Texte von Nikolaus Berwanger, von den schon genannten beiden Autoren sowie von Karin Berwanger, Paul Schuster, Sigrid Eckert-Berwanger, Walter Engel, Eduard Schneider, Annemarie Podlipny-Hehn, Annemarie Schuller, Luzian Geier, Heinrich Lay, Hans Stemper oder Halrun Reinholz – neben Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern haben sich auch Verwandte, Bekannte, Freunde und Leser zu Wort gemeldet – „etwas bewegen können“.

»Auswertung der Flugdaten« · Notizen zu Thomas Kling

Theo Breuer erinnert mit seinen „Notizen zu Thomas Kling“ an den vor zehn Jahren verstorbenen Dichter. Anlässlich von Axel Kutschs 70. Geburtstag am 16. Mai 2015 veröffentlichen wir – von Theo Breuer ausgewählt – sieben Gedichte aus „Versflug“, dem jüngst erschienenen neuen Gedichtband. Herzlichen Glückwunsch, Axel Kutsch! Und unser kürzlich gefeiertes Geburtstagskind Dieter P. Meier-Lenz stellt uns Lola vor: in einem Gespräch und acht Gedichten.

Daxue und Zhongyong – Die Große Lehre, Maß und Mitte

Mit „Daxue und Zhongyong – Die Große Lehre, Maß und Mitte“ sucht Ulrich Bergmann uns das von ihm erlebte China nahezubringen. Und Christine Kappe, Rainer Wedler, Eric Giebel, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss und Stefanie Golisch runden diese Ausgabe mit Essays und Bücherbesprechungen ab.

Am 13. April starb Günter Grass, kurz nachdem er es geschafft hatte, sein letztes Manuskript – keinen Roman, sondern ein Experiment, eine Mischung aus Prosa und Dichtung – „druckfertig“ zu haben. Der Abschied von einem deutschen Gegenwartsautor, der nicht nur mit seiner Literatur auch außerhalb Deutschlands für Wirbel gesorgt hat, erfolgte unterschiedlich – obwohl ausnahmslos unter dem Motto: „De mortuis nil nisi bene.“ Nun, da der politische Provokateur und künstlerische Workaholic nicht mehr da ist, bleibt uns – die wir ihn oft nur noch unter polemischen Stichworten von „Waffen-SS“ bis hin zu „Was gesagt werden muss“ und „Europas Schande“ wahrgenommen haben – zum Glück nichts anderes übrig, als seine Bücher erneut aufzuschlagen. Von der „Blechtrommel“, dem „Big Bang“ der deutschen Nach-kriegsliteratur, bis zu „Hundejahre“, seinem „ungelesensten“ Roman, wie Denis Scheck in einem Interview anmerkt: „Ich habe jedenfalls noch keinen Mitarbeiter des WDR getroffen, der weiß, dass das letzte Drittel von ,Hundejahre‘ im Wesentlichen von einem Redakteur des WDR handelt, der in Köln-Marienburg lebt und dort Talkshows moderiert. Und Grass war immer jemand, der sich der Medienwirklichkeit sehr früh bewusst war, und das auch literarisch reflektierte. Und lesen Sie mal das letzte Drittel der ,Hundejahre‘; das ist ein Roman über das Deutschland des Jahres 2015. Da kann man Gänsehaut bekommen.“
Schwer fällt uns auch, den Verlust von Hans Bender als unwiderrufliche Tatsache zu akzeptieren. Der Autor und Mitbegründer der renommierten Literaturzeitschrift „Akzente“ war zudem Herausgeber der „Konturen – Blätter für junge Dichtung“ sowie zahlreicher Anthologien, u. a. „In diesem Lande leben wir. Deutsche Gedichte der Gegenwart“ von 1978. „Das war das Logbuch, das war der richtungsweisende Band, wo man sich über die neueste Lyrikproduktion informieren konnte“, so DLF-Literaturredakteur Hajo Steinert.
Diese Ausgabe schließt mit zwei Texten von Theo Breuer im Gedenken an Hans Bender und Günter Grass.

Ihr
Traian Pop

• Horst Samson • Nikolaus Berwanger • Richard Wagner • Theo Breuer • Axel Kutsch • Dieter P. Meier-Lenz • Ulrich Bergmann • Karin Berwanger • Sigrid Eckert-Berwanger • Walter Engel • Eduard Schneider • Mária Pongrácz • Paul Schuster • Ildico Achimescu • Pia Brînzeu • Annemarie Schuller • Luzian Geier • Heinrich Lay • Annemarie Podlipny-Hehn • Hans Stemper • Halrun Reinholz • Christine Kappe  • Uli Rothfuss • Eric Giebel • Stefanie Golisch • Rainer Wedler • Wolfgang Schlott • Harald Gröhler • Rainer Wedler • Wolfgang Schlott • Gert Weisskirchen • Uli Rothfuss •