MATRIX 4/2020 (62)

MATRIX 4/2020 (62)

Zeitschrift für Literatur und Kunst

Liebe MATRIX,

wir stehen am Scheideweg: Du hast mir das ein paar Mal zu verstehen gegeben, und ich habe letzte Nacht geträumt, dass du vieles Gewohnte ändern willst. Bevor wir darüber sprechen, was wir unternehmen werden, wage ich es, dich nach deiner Einschätzung des bisher Erreichten zu fragen.
Diese verspätete Ausgabe des Magazins ist eine ganz normale Nummer, die das Vorhaben des Chefredakteurs und des Teams umsetzt: nicht mehr und nicht weniger, als auf Literatur aufmerksam zu machen. Und das Stichwort „Qualität“ würde ich hinzufügen – wenn wir nicht wüssten, wie viele Fallen sich hinter diesem Wort verstecken. Das 2005 geborene Magazin ist seiner definierten Zielsetzung treu geblieben: Matrix – Zeitschrift für Literatur und Kunst ist der europäischen Idee verpflichtet. Sie will einem deutschsprachigen Publikum nicht nur das literarische und kulturelle Leben in Deutschland, sondern auch die vielfältigen Möglichkeiten von Kultur, Sprache und Literatur des europäischen Kontinents wie der ganzen Welt nahebringen.
Wie viel davon spiegelt sich in der aktuellen Ausgabe wider?
Hoffentlich alles: von dem Schneefall, dem niemand Einhalt gebieten kann – der scheint Traian Pop Traian fast so viel zu schaffen gemacht zu haben wie jenen, die an der Schneeräumung beteiligt waren –, über das Minipanorama englischsprachiger Dichtung aus Nordamerika (Stephen Dunn, Billy Collins, Marilyn Nelson, Lucille Clifton, Dereck Walcott, Ted Kooser, Peter Johnson, Marnie Walsh, Bob Hicock und Mary Oliver im Original und in deutscher Übertragung von Stefanie Golisch) bis zu drei Corona Pictures bzw. sechs neuen Gedichten von Peter Frömmig sowie Matthias Buths inspiriertem Kommentar 55 Stimmen aus der Welt der Poesie zum Band Mit den Augen von Zeitgenossen. Erinnerungen an Paul Celan, der kürzlich im Suhrkamp Verlag erschienen ist.
Wie verläuft ein Tag, nennen wir ihn „normal“, aus deiner Perspektive?
Lang und holprig. Voller Hoffnungen und Enttäuschungen. Und Vorwürfen. Diejenigen, die mir einen Namen verschafft haben, sind sowohl Schriftsteller als auch Herausgeber, haben allerdings seit Jahren einen regulären Job, um über die Runden zu kommen. Mein Redakteur ist ein Frühaufsteher, er weckt mich meist sehr früh. Wenn er mich verlässt, um an seinem Roman zu arbeiten, den er vor einer Ewigkeit begonnen hat, macht er sich Vorwürfe, weil er sich eher um mich kümmern sollte, und wenn er zu mir zurückkehrt, spüre ich seine Traurigkeit, dass er die Arbeit am Roman liegen lassen musste. Abends bin ich dann betrübt, wenn ich merke, dass ein weiterer Tag vergangen ist, an dem er alles um sich herum völlig vergessen hat – von seiner Familie bis zu den „pathophysiologischen“ Bedürfnissen (wie er sich selbstironisch dazu äußert), die er ständig ignoriert.
Und ein „nicht normaler“ Tag?
Einer, an dem ich mir selbst überlassen bin. Das passiert normalerweise, wenn eine Ausgabe gerade in den Druck gegangen ist. Die ganze Redaktion atmet erleichtert auf. Nur einer gerät ohne Ausnahme in Panik, da ab diesem Zeitpunkt nichts mehr zu ändern bzw. zu korrigieren ist. Er gibt sich zwar ruhig und gelassen, aber mich kann er nicht täuschen. Nach so vielen gemeinsamen Jahren steigt auch mein Blutdruck – nicht nur wenn er vergisst, seine Medikamente einzunehmen. Denn viermal im Jahr macht er mich mit dem bloßen Gedanken, dass irgendein Fehler unentdeckt geblieben sein könnte, verrückt.
Wie hast du dich entschieden, ein Literaturmagazin zu werden?
Es ist schwer und schön zugleich, Schriftsteller und Redakteur zu sein, doch es ist genauso schwer, als wahrhaftige Zeitschrift nicht nur an Glanzleistungen, sondern auch an Anmaßungen und Frustrationen beteiligt zu sein, als würde dir ein Nachbar von oben einen Eimer Spülwasser über den Kopf kippen, wenn du dich gerade ausgehfein gemacht hast. Die Entscheidung, eine Zeitschrift – noch schlimmer: eine literarische – zu werden, ähnelt der Entscheidung, ein wildes Pferd zu reiten, das deinen Weg kreuzt und dem es dir wie durch ein Wunder auf den Rücken zu springen gelingt. Die Freude hält aber nur kurz an: Es fängt sofort an zu bocken, um dich loszuwerden. Doch nach einer Weile beruhigt es sich und scheint dir sogar ergeben und dankbar zu sein. Du fühlst dich wie ein Gewinner und denkst, dass es immer so bleiben wird. Was dir natürlich niemand garantieren kann. Nicht einmal, dass es ein „nächstes Mal“ geben wird.
Kann eine Zeitschrift, speziell eine literarische, die Welt verändern?
Die Welt verändern? Kann überhaupt jemand die Welt verändern? Und will jemand das tatsächlich? Hm, eine Literaturzeitschrift ist kein politisches Programm. Das kann man natürlich auch anders sehen. Literatur mit allem, was sie um sich sammelt, spricht nicht nur den Menschen als Individuum an, sondern auch den Menschen, der mehr oder weniger bewusst an einer Gesellschaft teilhat. Das Individuelle und das Gesellschaftspolitische können nicht getrennt voneinander existieren. Was bedeutet es wirklich, ein Mensch zu sein? Welche moralische Verantwortung – wenn überhaupt – tragen wir auf unseren Schultern? Die Aufgabe des Schriftstellers ist es, den Leser zu zwingen hinzuschauen, wo er dies normalerweise ablehnt. Eine Nachrichtenredaktion achtet darauf, dem Leser nicht mehr zuzumuten, als er verkraften kann: Wenn er in den Zug steigt und pünktlich am Reiseziel ankommt, hat die Zeitung ihre Pflicht erfüllt. Doch Literatur ist etwas anderes: Sie hat ihre Pflicht erst dann erfüllt, wenn der Leser in den Zug steigt und früher oder später an einem ganz anderen Ort eintrifft – das Unerwartete, das den Reiz des Lebens und der Literatur ausmacht.
Wie kam es zum Erscheinen dieses Magazins?
Ich möchte dieser Frage am liebsten ausweichen. Auf jeden Fall hat jener, der mich ins Leben rief, es nicht – wie empfohlen – laut einer Marktumfrage oder Studie zu einem profitablen Geschäft getan. Und seine Entscheidung wurde auch nicht infolge eines Lottogewinns oder eines über Nacht vom Himmel gefallenen Erbes getroffen. Deshalb täte es mir schrecklich leid, wenn jemand verärgert reagieren würde, weil ich ihn verführt habe.
Auf deinen Seiten gibt es Freude und Leid, Gut und Böse, Licht und Dunkelheit. Wie ist es deiner Meinung nach um die Seele des Schriftstellers bestellt?
Genau wie um die Seele jedes anderen Menschen, gestern wie heute.
Was ist das Schlimmste, das deine Seiten zu ertragen hatten?
Ich bin mehrmals von Autoren getäuscht worden, die hinter dem Schutzschild von Gerechtigkeits- und Wahrheitsliebe Hass verbreitet haben. Die Aufstachelung zum Hass nützt weder dem Anstifter noch dem Gegenstand des Hasses. Zwar stimmt es: Qui s’aime se taquine! Doch immer vorausgesetzt, dass die Liebe Liebe bleibt. Wenn sie aber zum Schutzschild verkommt, dann entstehen Monster. Und die haben weder Literatur noch Geschichte nötig. Was sie natürlich nicht daran hindert, weiter zu existieren und sogar Bewunderer zu finden.
Welchen Autor würdest du veröffentlichen, ohne seinen Text vorher zu lesen?
Alle Autoren, an die ich glaube. Das Versagen eines wahrhaften Autors bringt mehr als der Erfolg eines hochgelobten Schreibers. Und darin liegt das Problem. Wer echt und wer unbedeutend ist, entscheiden nicht die Leser, Juroren oder Verleger. Nur die Grande Dame Literatur entscheidet. Stell bitte ihr die Frage, wenn du dich traust!
Beziehst du dich dabei auch auf Autoren dieser Ausgabe?
Nicht nur, sondern auch. Ich überlasse es den Lesern, sie zu entdecken.
Was würdest du den Lesern noch über das aktuelle Magazin berichten?
Die Königin der Literatur, die Poesie, ist nicht nur durch die eingangs genannten Autoren vertreten, sondern auch durch Charlotte Ueckert, Ines Hagemeyer und Doru Eugen Popin. Karl Wolff kehrt mit Aldi-Texten zurück. Mit traumwandlerischer (poetisch grundierter) ‚Sicherheit‘ bewegt sich Werner K. Bliß in Theo Breuers Zettelraum, taucht ein in die Tiefe der Gedichte des anläßlich Paul Celans hundertstem Geburtstag erschienenen Gedichtbuchs nicht weniger nicht mehr. Ioona Rauschan und Hans Lindemann verbergen sich hinter ihren Texten und lächeln uns von dort aus an. Die Literatur-Nobelpreisträgerin von 2020, die US-amerikanische Dichterin Louise Glück mit ungarisch-jüdischen Wurzeln, sagte nach Bekanntgabe ihrer Auszeichnung, sie lebe in ihren Büchern; mit diesen sei sie gerne zusammen. Das klingt weise und bitter zugleich, findet Matthias Buth. Hans Dama kämpft immer noch mit der rücksichtslosen Geschichte, die oft vergisst, aus Erfahrungen zu lernen. Manfred Pricha, Rainer Wedler, Cornelius Scherg und Ulrich Bergmann erlauben uns, einen Blick auf ihren Schreibtisch zu werfen. Widmar Puhl, Peter Frömmig, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss und Matthias Buth teilen ihre Ansichten zu den neu erschienenen Büchern von Philip Reeve, Philipp Blom, Rachilde, David Grossman und Iris Wolff. Matthias Buth empfiehlt außerdem, wie bereits erwähnt, die von Herausgeber Petro Rychlo gesammelten 55 Erinnerungen an Paul Celan.
Und was bietet die nächste Ausgabe?
Was wurde uns allen als Bürde mit auf den Weg gegeben? Wie viel davon wollen und können wir tragen? Auf diese Fragen antworten Autoren mit den unterschiedlichsten historischen Erfahrungen. Los geht’s im nächsten Heft. Mehr möchte ich nicht verraten.
Noch ein Schlusswort?
Ich hoffe, die Leser werden mir bessere Fragen stellen!
Für Sie aufgezeichnet von
Traian Pop

• Peter Frömmig • Traian Pop Traian • Margaret Atwood • Stephen Dunn • Billy Collins • Marilyn Nelson • Lucille Clifton • Derek Walcott • Ted Kooser • Peter Johnson • Marnie Walsh • Bob Hicock • Mary Oliver • Transatlantische Stimmen • Stefanie Golisch • Charlotte Ueckert • Ines Hagemeyer • Doru Eugen Popin • Karl Wolff • Werner K. Bliß • Matthias Buth • Ioona Rauschan • • Hans Lindemann • Hans Dama • Rainer Wedler • Manfred Pricha • Cornelius Scherg • Ulrich Bergmann • Widmar Puhl • Wolfgang Schlott • Uli Rothfuss • Barbara Zeizinger • Traian Pop • Widmar Puhl • Wolfgang Schlott • 

Inhalt

Traian Pop • Liebe MATRIX . Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter

Ein Gedicht für den Winter
Traian Pop Traian • Der letzte Schnee / S. 7

Transatlantische Stimmen
(Übertragung von Stefanie Golisch)
Margaret Atwood • Game after supper / Spiel nach dem Abendbrot / S. 10
Stephen Dunn • The Routine Things Around the House / Häusliche Routine / S. 12
Stephen Dunn • The party to which you are not invited / Die Party, zu der du nicht eingeladen bist / S. 16
Billy Collins • Taking Off Emily Dickinson’s Clothes / Emily Dickinson entkleiden / S. 20
Billy Collins • Aimless Love / Ziellose Liebe / S. 24
Marilyn Nelson • How I Discovered Poetry / Wie ich die Poesie entdeckte / S. 28
Lucille Clifton • won’t you celebrate with me / wollt ihr nicht mit mir feiern / S. 30
Derek Walcott • Love after Love / Liebe nach der Liebe / S. 32
Ted Kooser • Selecting A Reader / Eine Leserin aussuchen / S. 34
Peter Johnson • Pretty happy / Ziemlich glücklich / S. 36
Marnie Walsh • Bessie Dreaming Bear Rosebud, So. Dak., 1960 / Bessie Dreaming Bear Rosebud, So. Dak., 1960 / S. 38
Bob Hicock • Man of the House / Hausmann / S. 40
Mary Oliver • Wild Geese / Wildgänse / S. 42

Peter Frömmig • Corona Pictures / S. 44
Peter Frömmig • Am Anfang einer grünen Hoffnung . Sechs neue Gedichte / S. 45
Charlotte Ueckert • Zehn Gedichte / S. 53
Ines Hagemeyer • Fragen im Schlepptau . Gedichte in zwei Sprachen / S. 63
Doru Eugen Popin • Identitäten und Avatar – oder die genaue Benennung der Fakten . Gedichte / S. 77
Karl Wolff • Denken, aber wie! . Kurzprosa / S. 88
Mathias Buth • Leben mit dem Sterben / S. 99
Werner K. Bliß • In Theo Breuers Zettelraum: nicht weniger nicht mehr / S. 101
Ioona Rauschan • Abhauen / S. 108

Zeitgeschichte
Hans Lindemann • Europäische Kaffeehauskultur / S. 122
Hans Dama • Von Memel auf die Kurische Nehrung zum Th.-Mann-Haus / S. 129

Atelier
Rainer Wedler • Roxane Stoica . Die Unschuldsvermutung gilt nicht für präventiv-polizeiliche Maßnahmen . Prosa / S. 135
Manfred Pricha • Zwölf Gedichte / S. 145
Cornelius Scherg • Die Dunkelkammer . Prosa / S. 157
Ulrich Bergmann • Die schöne Polin . Prosa / S. 173

Bücherregal
Widmar Puhl • Philip Reeves, Krieg der Städte . Jagd durchs Eis . Der Grüne Sturm . Die verlorene Stadt / S.179
Peter Frömmig • Philipp Blom, Das große Welttheater. Von der Macht der Vorstellungskraft in Zeiten des Umbruchs / S. 183
Wolfgang Schlott • Rachilde, Monsieur Vénus. Materialistischer Roman / S. 188
Uli Rothfuss • David Grossman, Was Nina wusste / S. 191
Uli Rothfuss • Iris Wolff, Die Unschärfe der Welt / S. 193
Uli Rothfuss • Alberto Manguel, Sehnsucht Utopie. Eine Reise durch fünf Jahrhunderte / S. 196
Barbara Zeizinger • Harald Gröhler, Astreines Alibi / S. 198
Matthias Buth • Petro Rychlo (Hg.), Mit den Augen von Zeitgenossen, Erinnerungen an Paul Celan / S. 200

 

 

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