MATRIX 3/2018 (53) • Kreuz und quer – Literatur aus Rumänien •

„Jedoch: Ist ein Buch gedruckt, gehört es nicht mehr dem Verfasser an. Es ist in die Hände der Welt gelegt. Und verwandelt sich im Guten, im Unguten durch die, die es lesen, wächst auf alle Fälle über sich hinaus.“
Eginald Schlattner

Zauberer des Wortes

Sie sind Zauberer des Wortes und einige von ihnen schon lange nicht nur in ihrer Heimat, sondern auch über deren Grenzen hinaus bekannt. Einige sind – sonderbarerweise – im Ausland sogar bekannter und beliebter als zu Hause. Und einige warten noch darauf, entdeckt zu werden. Sie kommen alle aus Rumänien. Nicht nur, aber auch deswegen bieten wir ihren Werken so viel Platz wie möglich in unserer MATRIX, einer Veröffentlichung des – wie einer der eloquentesten Schriftsteller Rumäniens und gleichzeitig des deutschsprachigen Raumes bemerkt hat – „vielstimmigen Verlags POP, Inhaber Traian Pop, beheimatet in Rumänien, zu Hause in Deutschland“. Und hoffen, eine Antwort zu finden auf die Frage: Wie viel noch zu entdeckende Literatur aus Rumänien versteckt sich in den Schubladen der Autoren, Übersetzer und Verlage, die mit diesem Land verbunden sind?
So viel darüber, was mir als Initiator dieses Projekts vor etwa drei Jahren durch den Kopf ging, als das Ganze sich noch in der Planungsphase befand. Inzwischen ist vieles passiert und die Leipziger Buchmesse, auf der Rumänien Gastland war, liegt schon einige Monate zurück, doch fertig sind wir mit unserem Vorhaben noch lange nicht. Und werden, wie es aussieht, nie damit fertig sein.

Alltag des Schreibens

Eginald Schlattner, ein im Dörfchen Rothberg bei Hermannstadt/Sibiu lebender siebenbürgischer Autor und evangelischer Pfarrer, dessen letztes Buch Wasserzeichen definitiv zu den besten Titeln des Jahres 2018 gehört, eröffnet unsere Gala. In einer „kurzen Darbietung“ zu Wasserzeichen schrieb er u. a.:
Doch nachdem es heißt, der Heilige Geist Gottes hat sein Wohlgefallen an gelungenen kulturellen Schöpfungen, sage ich: Gott befohlen.
Zu mir ein Wort: Für mich stand das vergangene Jahr unter dem Zeichen von „fallen“, war gezeichnet von „Missfällen“: Arbeitsunfall in der Kirche beim Friedensgebet. Und dann weiter: Nach dem Hinfall unselige Fälle und Vorfälle noch und noch. Auch ein Todesfall.
Nun also: Ausfälle, ja! Aber kein Wegfall: Jeden Sonntag halte ich Gottesdienst, allerdings vor den Menschenkindern aus den Lehmhütten beim Bach. Evangelische Deutsche sind wir noch vier Greise zu begraben. Selbst die Toten sterben aus.
Dazwischen wahrlich das Ganze metaphysisch überhöht von Glücksfällen.
Und wie wir es glauben wollen: Alles in allem kein Unfall! Sondern eine Kette von Fügungen. Denkbar auch als Weg Gottes da hinaus, um nachzudenken, was am Ende der Biografie als Sündenfall benannt werden sollte und vielleicht in letzter Stunde wiedergutgemacht werden kann. Über dem Portal meiner Kirche (1225) steht in Marmorlettern: „Weise mir, Herr, DEINEN Weg.“
Leider Rückfall vor einem Monat, unerträgliche Schmerzen. Es geschah eines Abends wie aus heiterem Himmel, wahrlich ein Überfall. Ich tappe neuerlich mit dem Gestell zwischen Bett, Bad, Büro meines Weges.
Traumziel bleibt, wieder mit dem flotten Krückstock, wie im Sommer, hochgestimmt dahinzuwallen, so z. B. von der Küche bis zur Kirche, unbegleitet!
Ansonsten beschirmt Tag und Nacht die Haustochter Carmen
Bianca Trandafir mit viel Lachen und in Liebe. Die sich vor sieben Jahren, spitalsreif geschlagen, aus der Lehmhütte vom Bach eines Nachts auf den Pfarrhof gerettet hat, wissend um die offene Tür hier. Ich sagte: „Bleib!“
Nach zwölf Jahren ist es so weit: Am 16. März 2018 um 17.30 Uhr stellt Frau Dr. Edith Konradt das Buch vor: „Wasserzeichen“. Leipziger Buchmesse, Stand Rumänien.
Es ist ein letztes Wort am Ende meiner Biografie. Das letzte Wort. Ob und wie es gehört wird?
Zwei Damen befinden, die den Inhalt am Stück kennen und jedes Teilstück dazu: „Die Fülle von springlebendigen Gestalten und oft haarsträubenden historischen Gegebenheiten verdichtet sich zum breiten Zeitgemälde.“ (Edith Konradt) „Langwierig, aber nicht langweilig. Und ,Wasserzeichen‘ kann den übrigen Büchern ‚das Wasser reichen‘.“ (Tamar Ambros)
Auf der Himmelsleiter der Geltungen, gewiss, wünsche ich meinen Büchern einen würdigen Platz. Aber auf den obersten Sprossen der Skala gilt für mich, den Geistlichen, als triftig ungleich anderes. Denn: Meiner Seele Seligkeit hängt nicht von den Büchern ab.
Wie einfach, klar und natürlich. Man versucht das Leben zu leben – egal ob es seine schöne oder weniger schöne Seite zeigt –, bewusst und froh, diese einmalige Chance nutzen zu dürfen.
Haben Sie bitte Verständnis für den Verfasser dieses Editorials, wenn er dem oben Gesagten kaum noch etwas hinzuzufügen hat. Was könnte ich Ihnen denn noch erzählen? Dass sich auch im Dasein eines Schriftstellers vieles um den normalen Alltag dreht? Selbst in Rumänien – wie überall, wo man (noch) schreibt und liest. Es geht – wie Sie den ausgewählten Textbeispielen entnehmen können – um nicht mehr und nicht weniger als um das Leben in dieser Ecke der Welt, das zu weiten Teilen anders war und ist, als man es sich im Westen in vielen klischeehaften Bildern vorstellt, nämlich keineswegs nur Dracula, Bettler, Ceauşescu, Securitate, leere Regale, Plattenbauten und Korruption. Meiner Meinung nach will Eginald Schlattner auf keinen Fall die Siebenbürger Sachsen, die Rumänen, die Ungarn, die Zigeuner – die sich übrigens in Rumänien selbst so nennen und nicht Roma – sowie alle, die dort gelebt haben oder immer noch leben, verteidigen oder verurteilen, er versucht nicht, sich oder andere reinzuwaschen, er lässt nur sein Leben – und alles, was dazugehört – in seine Prosa einfließen. Einfach so, aus Lust am Erzählen. Nicht weil er es so plant, sondern weil er nicht anders kann. Er ist kein gelernter, sondern ein geborener Schriftsteller. Einer mit einem eigenen Stern in der himmlischen Nomenklatur. Was nicht unbedingt heißt, dass er und sein Werk mit bedeutenden Literaturpreisen bedacht wurden. Denn das Gegenteil gehört leider auch zur unserer „Normalität“. Selbst wenn z. B. der Roman Rote Handschuhe, der Eginald Schlattners zwei Jahre Untersuchungshaft bei der Securitate in Stalinstadt (heute wieder Kronstadt/Braşov) thematisiert, unter den hundert besten in deutscher Sprache geschriebenen Büchern 1999–2001 figuriert (Goethe-Institut, Internationes). Übrigens wird eine der nächsten Ausgaben von MATRIX dem Werk und Wirken von Eginald Schlattner als Schwerpunktthema gewidmet sein.
Der „rumänische Teil“ dieser Ausgabe wird durch Lyrik unterstützt. Es signieren u. a.: Ana Blandiana (Die Einsamkeit ist eine Stadt, / in der die anderen gestorben sind – welch ein wunderbarer Einstieg in die Welt der Lyrikerin!), die junge Autorin Ana Donţu (mit tom&jerry konntest du alles tun), Dinu Flămând (frühmorgens das Schweigen der Nacht / am Fenster die Asche der Zeit), Ilse Hehn (Der Versuch, auf Füchsen zu reiten. // Nichts geht mehr bis aufs Blut, / die Pferde sind tot, es lebe der Gaucho, / die Pampa verloren an den Westen), Petru Ilieşu (Rumänien, / – Siehe da die Logik von der Immunität der Parlamentarier / siehe ein neues Handwerk rentabel und geschützt / das der Demokratie alle schmutzigen Spuren verwischt […] Rumänien, ein neuer Sieg! / Eine neue Diktatur der Opfer. / Ein Frieden! / Noch ein Frieden! / Ein … neuer Frieden!), Traian Pop Traian (der Augenblick der Liebe muss vor anderen geheimgehalten werden / denn die Gefahr mehr zu lieben als du verkraftest verzehnfacht sich / wenn alles öffentlich wird wenn der Zuschauer dich zu immer / höheren Leistungen zwingt ausgerechnet dich der du so konservativ veranlagt bist / dass du nicht einmal ihren Namen in Kleinbuchstaben schreiben würdest), Horst Samson (Also werde ich zappeln, werde zappeln / In der Hoffnung auch, dass der Mann am Schlegel / Mut und Weisheit genug haben wird, zu berichten, / Wie maßlos gering sein Verdienst war), Hellmut Seiler (Es geht also weiter. Immer weiter. / Die Wirklichkeit eine Strickleiter, / zur Kenntlichkeit verzerrt) und Robert Șerban, einer der erfolgreichsten (noch) Jungautoren aus der rumänischen Literaturszene (tatsächlich / erwarte ich nichts wenn / das Blatt Papier vor mir liegt / genauso wie ich auf einer Brücke / nichts anderes erwarte als dass sie mich hinüberbringt / oder entzweibricht).

Die Welt und ihre Dichter wird eingerahmt von einigen neu ins Deutsche übersetzten Gedichten von Wjaceslaw Kuprijanow. Und ein Essay von Klaus Martens – „Ich bin, der ich bin. Wer oder was schreibt wem? Einige Phänomene in der (zumeist) amerikanischen Lyrik“ – fliegt über den Atlantik zu uns, um die Reise durch die Welt abzurunden.
Die deutschen Autoren sind natürlich auch vertreten, diesmal durch Gedichte von Michael Hillen und Peter Gehrisch sowie Prosa von Marco Sagurna: ein Auszug aus dem Roman Werbia, ausgezeichnet mit dem „Prima Verba“-Debütpreis 2018 des POP-Verlags.

Wolfgang Schlott, Widmar Puhl, Matthias Hagedorn und Elisabeth Schawerda besprechen neu erschienene Bücher von Eginald Schlattner, Hartmut E. Arras, Peter Meilchen, Tom Täger & A.J. Weigoni, Klaus F. Schneider sowie Charlotte Ueckert. Und „PANTHEON. Ein großartiges Jazzprojekt mit Bach“ heißt Widmar Puhls Bericht aus der Kulturszene.

So viel diesmal und bis bald,
Traian Pop

Es signiert: • Eginald Schlattner • Ana Blandiana • Ana Donţu • Dinu Flămând • Ilse Hehn • Petru Ilieşu • Traian Pop Traian • Horst Samson • Hellmut Seiler • Robert Șerban • Wjatscheslaw Kuprijanow • Klaus Martens • Michael Hillen • Peter Gehrisch •
• Marco Sagurna • Wolfgang Schlott • Widmar Puhl • Matthias Hagedorn • Elisabeth Schawerda •
Inhalt

Editorial / S. 4

Die Welt und ihre Dichter

• Kreuz und quer – Literatur aus Rumänien •
Eginald Schlattner • Wasserzeichen . Ein Auszug aus dem gleichnamigen Roman. / S. 9
Ana Blandiana • Zehn Gedichte / S. 25
Ana Donţu • Drei Gedichte / S. 35
Dinu Flămând • Acht Gedichte / S. 39
Ilse Hehn • Sieben Gedichte und drei Arbeiten / S. 47
Petru Ilieşu • Rumänien. Post scriptum . Ein Poem / S. 60
Traian Pop Traian • Acht Gedichte / S. 73
Horst Samson • Vier Gedichte. / S. 83
Hellmut Seiler • Acht Gedichte / S. 93
Robert Șerban • Zehn Gedichte / S. 105

Wjatscheslaw Kuprijanow • Sechs Gedichte (Russ. / Dt.) / S. 116
Klaus Martens • Ich bin, der ich bin. Wer oder was schreibt wem? Einige Phänomene in der (zumeist) amerikanischen Lyrik. / S. 128

Atelier
Michael Hillen • Zwölf Gedichte. / S. 143
Peter Gehrisch • Chronos, preise mir jetzt nicht das Chaos! . Elf Gedichte. / S. 155
Marco Sagurna • Warmia . Ein Auszug aus dem gleichnamigen Roman. / S. 167

Bücherregal
Wolfgang Schlott • Eginald Schlattner, Wasserzeichen. / S. 176
Wolfgang Schlott • Hartmut E. Arras, Vom Freischärler zum Propagandisten des Nationalsozialismus. Mein Vater Erwin Arras (1905-1942). / S. 180
Wolfgang Schlott • 630 Buch / Katalog-Projekt von Peter Meilchen, Tom Täger & A.J. Weigoni. / S. 184
Widmar Puhl • Klaus F. Schneider, „pret-a-porter“. / S. 186
Matthias Hagedorn • Die Fluidität der Poesie . 630 . Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni. / S. 189
Elisabeth Schawerda • Charlotte Ueckert, Die Fremde aus Deutschland. / S. 199

Musik
Widmar Puhl • Pantheon . Ein großartiges Jazzprojekt mit Bach / S. 201

 


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