MATRIX 1/2018 (51) • Kreuz und quer – Lyrik aus Rumänien •

Schon mal erlebt? Beim Durchblättern einer Publikation, die sich als „Zeitschrift“ oder „Anthologie“ ausweist, entsteht der Eindruck, dass sie nicht für die Leser, sondern für die Urheber der veröffentlichten Texte gemacht wurde. Man erkennt mühelos, welcher Urheber mehr investiert hat, um für sein Werk ein Obdach zu finden, nämlich nach der gepachteten Fläche. Ich erinnere mich genau an einen Novemberabend, als ich bei der Präsentation einer solchen Ausgabe überrascht feststellen musste, dass die meisten Exemplare nicht von Lesern, sondern von den Autoren gekauft wurden – wobei die Anzahl der jeweils erstandenen Exemplare Rückschlüsse auf die Anzahl der jeweils belegten Seiten erlaubte. Doch über solche Praktiken möchte ich keine weiteren Worte verlieren, dafür ist mir meine Zeit zu schade.
Was mich aber beschäftigt, ist eine Sammlung von Texten, wo nicht der Autor, sondern sein Werk das Sagen hat. Gerade weil es öfter vorkommt, dass solche Projekte in erster Linie die Autoren oder die Kritiker im Visier haben. Manche Anthologien scheinen sogar von Autoren für Autoren bzw. von Kritikern für Kritiker gemacht zu sein. Gut für den Autor, für den Kritiker und für andere Spezialisten (Studenten, Forscher usw.). Was aber können wir tun, um die Literatur, die diesen Namen verdient, vor allem dem Leser näherzubringen? Und dies ohne falsche Versprechungen, ohne luxuriöse Ausgaben, ohne aggressive Werbung oder dergleichen? Wie können wir einfach das Werk für sich sprechen lassen in einer Zeit, wo immer öfter die Verpackung mehr wert ist als der Inhalt und niemand daran interessiert scheint, dies zu sehen, noch weniger, es zu bekämpfen? Wie steht es dann um eine Anthologie für den anonymen Leser? Einige von Ihnen werden sofort sagen, dass die „echten Werke“ zu wichtig, zu schön, zu überraschend und zu berauschend sind, um nur Spezialisten – seien es Autoren oder Kritiker – zugänglich zu sein. Wie aber sollte eine Anthologie aussehen, damit die Texte von möglichst vielen Lesern wahrgenommen werden können? Gute Frage!
Die jetzige Ausgabe von MATRIX gehört, wie Sie schon ahnen werden, zu einer Reihe, die Ihnen ganz einfach – und das heißt: ohne Hierarchien, Ranglisten oder Zugeständnisse an irgendeine verkopfte oder verkrampfte Sichtweise – Werke aus Rumänien vorstellen möchte. Wir wollen Ihnen lediglich – im Rahmen unserer Möglichkeiten – einen kleinen Teil des umfangreichen Angebots präsentieren.
Die Geschichte der Literatur aus Rumänien wurde – von den Anfängen bis heute – noch nicht einmal in ihrem Herkunftsland gebührend wahrgenommen. Selbst dortige Leser brauchten einen Literaturnobelpreis, um zu verstehen, dass in Rumänien verdammt gute Literatur geschrieben wurde und wird – sogar in einer anderen Sprache als Rumänisch. „Wer hat Angst von Herta Müller?“, fragte einer der besten Literaturkritiker des Landes, als die frisch ausgezeichnete Autorin nach Rumänien reiste, um endlich einen Dialog mit der rumänischen Leserschaft zu beginnen. Dass dieser Dialog schon dreißig Jahre vorher hätte stattfinden müssen, scheint niemanden mehr zu interessieren. Sollen wir glauben, dass daran – wie an allem anderen – nur die kommunistische Regierung schuld sein soll? Trotz der Tatsache, dass ihre Werke veröffentlicht und geehrt wurden, sogar mit dem Preis der Kommunistischen Jugendorganisation – übrigens einer sehr guten Erfindung der rumänischen Literaturbranche, um sich an der Wachsamkeit der „Behörden“ zu rächen: Wer diesen echten Literaturpreis bekommen hat, konnte sich einigermaßen sicher fühlen. Sollen wir uns nun wundern, dass eine Bukarester Zeitschrift fragte, was man tun könne, um den Literaturnobelpreis auch nach Rumänien zu holen? Es sieht so aus, als ob tatsächlich noch einer nötig wäre, um die Vermutung, hier schreibt man Weltliteratur, zu bestätigen. Was schwer verständlich scheint, ist die Tatsache, dass die preisgekrönte Autorin in Rumänien eigentlich für sich und für einen kleinen Leserkreis schrieb. Dort gab damals nicht mehr so viele Deutsche und die meisten waren bestimmt nicht einverstanden mit Herta Müllers antifaschistischer und antikonservativer Prosa – wenn sie überhaupt an etwas anderes als an Auswanderung gedacht haben. Eine Autorin, die mehr Aufmerksamkeit von Kollegen (auch viele rumänische Autoren haben Herta Müllers Prosa schon damals, vor ihrer Ausreise, sehr geschätzt) und Kritikern bekommen hat als von den Lesern. Dass sich das Blatt nach ihrer Ausreise nach Deutschland gewendet hat, steht fest, auch wenn einige bekannte Zeitschriftenredaktionen nicht wahrhaben wollten, dass die Angehörigen der deutschen Minderheit in Rumänien Deutsch gesprochen, gelernt, kommuniziert, Theater gespielt und geschrieben haben – manche so gut, dass die Stockholmer Juroren dies unbedingt honorieren wollten.
Klammer zu. Sollen wir nun aber davon ausgehen, dass noch ein Literaturnobelpreis – und zwar für einen Schriftsteller, der rumänisch schreibt, aber im Ausland lebt – nötig wäre, damit die rumänische Leserschaft versteht, dass die rumänische Literaturgeschichte nicht nur im Land selbst, sondern auch in Deutschland, Frankreich, den USA, Russland, Ungarn, der Ukraine oder Moldawien – eigentlich überall auf der Welt – geschrieben wurde und wird? (So viel z. B. zum Thema Panait Istrati, Mircea Eliade, Emil Cioran, Eugen Ionesco, Matei Vişniec, Norman Manea, Carmen-Francesca Banciu, um einige auch hierzulande bekannte Namen in den Mund zu nehmen.)
Oder besser gleich zwei (es wäre möglich, zumindest 2019) – und zwar auch einer für einen rumänischen Autor, der in Rumänien lebt und schreibt (Mircea Cărtărescu kommt seit Jahren dafür infrage, Ana Blandiana ist keine Unbekannte in Stockholm und Varujan Vosganian hat, meiner Meinung nach, auch verdammt gute Karten, sein „Buch des Flüsterns“ wurde als „Ein ,Jahrhundertbuch!‘“ von der FAZ gefeiert.)
Nun, nachdem ich gerade dieses Jahr ohne Literaturnobelpreis mit dem Preis verbunden habe, möchte wieder auf die Erde zurückfinden, um Ihnen endlich zu sagen, dass ich einfach weitermachen möchte und mein Versuch als ein kleiner Beitrag zur Bekanntmachung der Literatur aus Rumänien verstanden werden soll, die sich wie ein umgedrehtes Fernglas auf die schmerzhafte menschliche Komödie in diesem Teil Europas richtet. Diese Literatur, entstanden auf einer „Insel der Latinität“, auf welche die meisten Rumänen so stolz sind und auf die sie alle gleichzeitig spucken. Diese Literatur, die eine Menge Freude und Trauer, Erfüllung und Verzicht, Kriege, Auswanderungswellen, Deportationen und andere Schicksale enthält, welche die „Insulaner“ meist als Pech betrachten wollen, auch wenn allen bewusst ist, dass sie dessen unmittelbares Produkt sind.
Was sollen wir nun im deutschen Sprachraum damit anfangen? Ich schlage vor, wir reisen einfach weiter kreuz und quer durch diese Landschaft. Gastgeber und Gast zugleich, erlaube ich mir diesmal, einige Lyrikbeiträge von Constantin Acosmei, Wolf von Aichelburg, Ion Barbu, Stoian G. Bogdan, Paul Celan, Traian T. Coşovei,  Dan Dănilă, Edith Konradt, Ioana Nicolaie, Nicolae Popa, Eugen D. Popin, Carmen Elisabeth Puchianu, Moses Rosenkranz, Petre Stoica, Theodor Vasilache, Matei Vişniec, Richard Wagner und Andrei Zanca auszuwählen. In der parallel erscheinenden Ausgabe von BAWÜLON werden dann Prosatexte von Radu Aldulescu, Carmen-Francesca Banciu, Mircea Cărtărescu, Gheorghe Crăciun, Rodica Draghincescu, Johann Lippet, Liviu Papadima, Viorel Marineasa, Julia Schiff und Géza Szocz veröffentlicht. Vielleicht vermissen einige von denen, die uns regelmäßig folgen, die Namen mancher Autoren, die wir schätzen und über deren Beiträge wir uns immer wieder freuen. Keine Sorge, nicht nur Eginald Schlattner und Dieter Schlesak – um hier nur zwei von ihnen zu nennen –, sondern auch viele andere werden in den folgenden Nummern vertreten sein.
Neben den oben genannten Autoren empfehle ich Ihnen einen Text von Gerhard Pötzsch, die Rezensionen von Wolfgang Schlott (Karl Ove Knausgård: Im Frühling, und Karl Ove Knausgård: Im Sommer), Stefanie Golisch (Susanna Piontek: In einer Falte der Welt), Katja Hachenberg (Donna Tartt: The Goldfinch und Der Distelfink) sowie den Essay von Matthias Hagedorn: „Die Fluidität der Poesie, 630. Peter Meilchen, Tom Täger und A.J. Weigoni“.
Einen weniger heißen Sommer hätte ich Ihnen gewünscht, um das Fieber des Literaturlandes namens MATRIX auszugleichen. So wie es aussieht, sind beide, sowohl MATRIX als auch der Sommer, aus dem Ruder gelaufen.
Traian Pop
Es signiert:
• Constantin Acosmei • Wolf von Aichelburg • Ion Barbu • Stoian G. Bogdan • Rihard Wagner • Rolf Bossert • Horst Samson • Paul Celan • • Frieder Schuller • Traian Pop Traian • Traian T. Coşovei • Dan Dănilă • Edith Konradt • Carmen Elisabeth Puchianu • Moses Rosenkranz • Theodor Vasilache • Matei Vişniec • Carmen Elisabeth Puchianu • Moses Rosenkranz • Theodor Vasilache • Matei Vişniec • Ioana Nicolaie • Nicolae Popa • Eugen D. Popin • Petre Stoica • Andrei Zanca • Barbara Zeizinger • Gerhardt Csejka • Uli Rothfuss • Wolfgang Schlott • Katja Hachenberg • Stefanie Golisch •
Editorial / S.4
Die Welt und ihre Dichter
• Kreuz und quer - Lyrik aus Rumänien •
Constantin Acosmei • Dreizehn Gedichte / S. 8
Wolf von Aichelburg • Zwei Gedichte / S. 17
Uli Rothfuss • „Ich selbst bin ein ungünstig gewählter Ratgeber in diesem Fall“ . Wolf von Aichelburg über Heimat / S. 20
Ion Barbu • Romantisch parallel . Acht Gedichte / S. 22
Stoian G. Bogdan • Zwei Gedichte / S. 32
Gerhardt Csejka • Hätte Rolf Bossert... / S. 35
Rihard Wagner • Laudatio / S. 36
Rolf Bossert • Acht Gedichte / S. 39
Rolf Bossert • Dankesrede zum „Adam Müller-Guttenbrunn“-Literaturpreis 1983 / S. 48
Horst Samson • Eulenspiegels Regenschnüre . Dem Dichter Rolf Bossert zum 65. Geburtstag / S. 50
Horst Samson • Vielleicht wollte er fliegen / S. 61
Horst Samson • Vier Gedichte für Rolf Bossert / S. 63
Traian Pop Traian • Gedicht für Rolf Bossert / S. 68
Paul Celan • Todesfuge / Tangoul morţii (Todestango) . Ein Gedicht / S. 70
Frieder Schuller • Celan und der lange Weg seiner „Todesfuge“
nach Deutschland / S. 74
Traian T. Coşovei • Ein Gedicht / S. 81
Dan Dănilă • Sieben Gedichte / S. 82
Edith Konradt • Zwei Gedichte / S. 89
Ioana Nicolaie • Fünf Gedichte / S. 93
Nicolae Popa • Fünfzehn Gedichte / S. 105
Eugen D. Popin • Sechs Gedichte / S. 116
Carmen Elisabeth Puchianu • Sechs Gedichte / S. 124
Moses Rosenkranz • Ein Gedicht / S. 132
Petre Stoica • Neun Gedichte / S. 133
Theodor Vasilache • Drei Gedichte / S. 142
Matei Vişniec • Sechs Gedichte / S. 146
Richard Wagner • Sechs Gedichte / S. 149
Andrei Zanca • Fünf Gedichte  / S. 159
Atelier
Gerhard Pötzsch • Abgesang . Prosa / S. 169
Bücherregal
Wolfgang Schlott • Karl Ove Knausgård, Im Frühling. / S.187
Wolfgang Schlott  • Karl Ove Knausgård, Im Sommer. / S. 190
Stefanie Golisch • Susanna Piontek, In einer Falte der Welt. / S.193
Katja Hachenberg • Donna Tartt, The Goldfinch . Donna Tartt, Der Distelfink. / S.195

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