MATRIX 3/2022 (69)_Zeitschrift für Literatur und Kunst

MATRIX 3/2022 (69)_Zeitschrift für Literatur und Kunst

Letzte Nacht geriet ich in einen Streit mit jemandem, der darauf bestand, mich in die Political Correctness einzuweihen.

Alles begann mit dem Artikel eines bekannten Journalisten, dessen Namen ich natürlich nicht erwähnen soll. Ich hatte also ein Material gelesen (das ich hier nicht wiedergeben kann, um nicht des Plagiats beschuldigt zu werden) über eine berühmte Sportlerin (darf ich das aus oben genannter Sicht sagen?), die ihr Brot als Profi in ihrem Land verdient (dessen Namen hier zu nennen nicht korrekt wäre), doch während ihres Urlaubs spielte sie – zur Abrundung ihres Einkommens – in einem Verein jenes Landes, dessen Namen man auf keinen Fall nennen soll. Und so verdiente sie im Urlaub etwa „n“-mal mehr als bei der Tätigkeit im Herkunftsland. Sie tut dies seit mehreren Jahren und kennt daher die Gepflogenheiten und Gesetze des Ortes, an dem sie ihre Ferien verbringt. Trotzdem wurde sie vor nicht allzu langer Zeit an einem Grenzübergang, der weltweit für die Strenge der Kontrollen bekannt ist, mit Drogen im Gepäck überrascht, die in ihrem Urlaubsland gesetzlich verboten sind. Bestrafung? Bis zu annähernd zehn Jahre Haft.

Von einem sehr hohen Beamten des Heimatlandes der Sportlerin wie auch ihren Anwälten und vielen Unterstützern wird dem Urlaubsland „illegale Festnahme“ vorgeworfen: ein Propagandaversuch.

Nach etlichen Monaten gescheiterter Verhandlungen über ihre Freilassung gestand sie plötzlich ihre Schuld ein, erklärte aber, dass sie das Gesetz nicht „vorsätzlich“ gebrochen habe, und der Größte des Tages in ihrem Herkunftsland glaubt immer noch, dass die Sportlerin „zu Unrecht inhaftiert“ wurde!
Nach einer Ewigkeit legte ein Anwalt der Sportlerin ein Dokument vor, das bescheinigte, dass ihr das „Medikament“ zu Hause von einem Arzt verschrieben wurde. Es steht jedoch fest, dass das vom Arzt ausgestellte Rezept zwar in ihrem Herkunftsland legal ist, im Urlaubsland aber, wo andere Gesetze gelten, keine Gültigkeit hat. Obendrein geriet die Sportlerin, die sich für ihre Art zu lieben und zu leben stark macht – eine Art, die im Urlaubsland nicht akzeptiert wird –, von Anfang an ins Fadenkreuz der Behörden. Sie konnte ihre medizinische Situation mit der Ferienclubleitung besprechen und eine Einigung mit den örtlichen Behörden erzielen. Aber sie trat arrogant auf mit dem Gedanken, dass es auch im Land ihrer profitablen Urlaube genauso laufen würde wie zu Hause, wo ihre Berühmtheit viele und vieles zum Dahinschmelzen brachte.

Dass ihr Urlaubsland den Fehltritt nutzt, um im Nervenkrieg mit ihrer Heimat zu punkten, ist klar. Klar ist aber auch, dass die Inhaftierung der Sportlerin auf keinen Fall rechtswidrig ist.

Nach einiger Zeit sind Informationen über eine mögliche Lösung der Situation aufgetaucht: ein Austausch von Geiseln zwischen den beiden Ländern. Als Gegenleistung für ihre Freilassung soll ein anderer Häftling ausgeliefert werden, der ab der Jahrtausendwende als der meistgesuchte Mann der Welt galt, immer noch mehrere Staatsbürgerschaften sowie anhängige Verfahren hat und seit mehreren Jahren (es wäre falsch, nicht wahr, zu sagen seit wie vielen) wegen unterschiedlicher hochkrimineller Machenschaften (über die es nicht geraten ist zu sprechen) hinter Gittern sitzt. Die Berater des Größten des Tages im Herkunftsland der Sportlerin hoffen, dass der Erfolg dieses Deals ein großer PR-Schlag werden und ihnen bei den bevorstehenden Wahlen erheblich helfen könnte. Es wäre möglich.

Bei allem Mitgefühl, das der Sportlerin entgegengebracht werden muss, obwohl sie die einzige Schuldige an der Situation ist, in der sie sich befindet, bleibt eine Frage im Raum stehen: Wie moralisch wäre eine Vereinbarung, durch die ein Krimineller wie der oben genannte im Austausch freigelassen würde? Aber in der Politik liegt der Preis der Moral im permanenten … „negativen Wachstum“.

Diese ganze Geschichte entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Denn die Sportlerin, für deren Befreiung sich der Größte des Tages in ihrem Heimatland so intensiv einsetzt, steht zu ihrer Position, die offiziellen Insignien ihres Landes nicht zu respektieren und während des Spielens der Nationalhymne den Platz zu verlassen. Es wäre jedoch keineswegs verwunderlich, wenn der Größte des Tages der Sportlerin nach ihrer Rückkehr die höchste Auszeichnung überreichen würde, die ein Bürger ihres Herkunftslandes erhalten kann, wie er es mit anderen – sehr lautstarken – Aktivisten bereits getan hat. Bis dahin aber wird es noch dauern, denn jetzt weiß sie genau, dass ihr in ihrem Urlaubsland statt einer Suite eine Gemeinschaftsunterkunft in einer Strafkolonie reserviert ist.

Was soll dies zu tun haben mit der Aussage, dass „mir die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe, zu diesem Freundeskreis, sehr viel bedeutete und auch heute noch bedeutet. Ich sehe mich mit allen damals Dazugehörenden weiterhin geistig eng verbunden“, so eines der Mitglieder der viel beneideten literarischen Gruppe, deren Gründung sich in diesem Sommer zum 50. Mal jährte? Ich frage das, weil ich von dieser Gruppe geträumt habe, als ihr Kampf begann. Und – haben Sie es erraten? – ich bin genau in dem Moment aufgewacht, als ich ihren Namen aussprach. Denn wer sich mit zu heißer Suppe die Zunge verbrannt hat, bläst auch in den Joghurt, zumindest wenn er gerade aus dem Schlaf gerissen wird. Ich frage mich jedoch, wie das wäre, wenn jeder auch in den Joghurt zu pusten anfinge …

Hochpolitisch und brisant waren die Worte dieser Jungs, die mir persönlich damals sehr nahegingen – trotz meiner Neigung, nicht alles, was engagiert klingt, positiv zu bewerten. Weil damals, wie leider immer noch, die Welt voller Engagement war: ein Engagement, hinter dem nicht selten nur leere Versprechungen standen.

Vor ein paar Jahren habe ich – mit Hilfe Host Samsons – einen Text entdeckt, der mir immer noch wie kein anderer mit seiner Schlichtheit, Natürlichkeit und Wärme der damaligen Aktionsgruppe Banat gerecht zu werden scheint: das lange Gedicht periamportreport, 1975 von Werner Kremm verfasst, aus dem ich hier zitiere:

„das ist ein singsang,
geschrieben von einem, der auszog
das fürchten zu lernen
und zeitweise bokschan mit periamport velwechsert,
zu seiner persönlichen verteidigung aber behauptet,
nicht zu wissen,
was er tut,
auf die frage, weshalb er schreibe,
gegenwärtig folgender-
massen antwortet: die einzig seriöse einstellung eines schreib-
enden ist, zu schreiben.“

„Für die Schreibtätigkeit der Angehörigen der »Aktionsgruppe« bedeutete die »eigene gesellschaftliche Realität« und das »neue Realitätsbewusstsein« einen dreifachen Bezugsrahmen der Reflexion und Kritik: Es ging dabei um die »realsozialistische« Gesellschaft Rumäniens und die noch stark traditional ausgerichtete Gemeinschaft der Banater Schwaben und ihre »Lebenswelt«. Beides – mitunter in einer »unheiligen Allianz« – erschien uns im Lichte der Moderne überaus fragwürdig, beides galt mithin als Gegenstand der Kritik und Grund zur Veränderung. Und die Grundlage dieser Kritik und ihr Hintergrund bestand gleichsam in der dritten Dimension unseres »Realitätsbewusstseins«, nämlich der Literatur, der modernen westlichen Literatur und dem Weltverständnis und Lebensgefühl, das diese vermittelte. Als Weg der Veränderung in diesem Sinne wurde allerdings nicht die direkte Aktion angesehen – insofern passt der Name »Aktionsgruppe« auch nur eingeschränkt –, sondern der Umweg über das Bewusstsein, über die Einstellungen und Haltungen zu diesen gegebenen Realitäten.“ So Anton Sterbling, dessen Artikel Sie ab Seite 29 lesen können.

Ich hätte Ihnen gerne auch erzählt, wann und wie ich diese Jungs kennenlernte und warum ich mich in deren Gesellschaft so wohl fühlte. Vielleicht tue ich das ein andermal. Zurzeit erscheint es mir etwas peinlich, mich an deren Erfolg dranzuhängen.

„Es war schon immer so, daß wir geschrieben haben, / um dereinst nicht mehr schreiben zu müssen.“ Holdger Plattas Gedichte scheinen uns und unseren Ansatz gegen das „Pusten in den Joghurt“ zu unterstützen – genauso wie die starke Abteilung von, mit und über Manfred Chobot: „»Gedichte muss man so schreiben, dass sie, wenn man sie gegen ein Fenster wirft, die Fensterscheibe zerschlagen.« Dies hat der russische Dichter Daniil Charms geschrieben. Seiner Forderung schließe ich mich vollinhaltlich an.“ Wundern Sie sich bitte nicht, wenn Sie feststellen müssen, dass unsere Ausgabe keine Scheibe mehr hat, gerade jetzt, wenn alle beim Heizen sparen müssen.

Nicht so schlimm, scheint Charlotte Ueckert zu sagen, wenn die Protagonistin ihrer Prosa sich erinnert: „Das wäre damals doch was gewesen: Duschbusse an zentralen Plätzen und man wäre als neuer, sauberer Mensch herausgekommen. Desinfiziert gegen jede Unzumutbarkeit.“

Dagmar Dusils Kurzprosa, die meisterhaft von einem Haiku angekündigt wird, bringt uns nicht nur einen unserer Bekannten nahe, sie fordert uns auf, an die Beziehung zu Unserer Zeit zu denken: „»Es ist deine Zeit«, (…) »Zeit ist Sand«, hatte sie ergänzt, »warm und zerrinnend, kalt und abweisend. Es ist nicht deine Zeit, sondern du gehörst der Zeit. Irgendwann braucht dich die Zeit nicht mehr, entledigt sich deiner. Dann folgt deine zeitenlose Zeit.«“
Der Essay von Kurt Roessler, Roma-Schausteller in Literatur und Kunst, der beginnenden Moderne bei Apollinaire, Picasso und Rilke, einer von vielen Schreien, unter der Initiative Der Himmel über Philomena gesammelt und herausgegeben von unserem Mitstreiter Matthias Buth, setzt sich nicht nur mit der Neigung auseinander, in den Joghurt zu pusten, sondern auch mit den Vorurteilen vieler von uns.

Unser ebenfalls sehr geschätzter Mitstreiter Theo Breuer lädt uns mit dem vierten Essay des insgesamt siebenteiligen Projekts L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« nach Norwegen ein – in Begleitung von Ingebjørg Berg Holm, Toril Brekke und Sigrid Undset –, um den „rostigen Klang von Freiheit“ zu erfahren. Sein fünfter Essay bringt uns Harald Gröhler näher: Flüchtig vorgestellt anhand einer Reihe von Büchern.

„Die Verlegenheit bleibt, nicht wenigen ist es peinlich, zu singen und dann auch noch »für das deutsche Vaterland«. Was heißt das eigentlich? Wer von den Ampelisten aus Berlin spricht davon? Und »im Glanze dieses Glückes« – ja, von Glück ist die Rede – soll dieses Land, das deutsche Vaterland, »blühen«. Die Blumen heißen »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Nicht alle Bundesminister vermochten am 3. Oktober 2022 in Erfurt beim »Nationalfeiertag« (schon diese Bezeichnung irritiert viele) mitzusingen, so Steffi Lemke. Sie schwieg.“ Manche Sätze in Matthias Buths Essay sind wahre Verzweiflungsschreie – wie dieser Ausschnitt aus Clara Schumann. Souvenir de Bonn et de Vienne
(ab S. 165).

„Wer mit dem gewaltigen Werk des Dichters Samson ein wenig vertraut ist, der wird nun auch den Mut haben, nach dessen Spiel mit dem Meer, der Zeit und dem Feuer sich an eine Monografie über sein Werk wagen. Nur zu, es lohnt sich!“ So beendet Wolfgang Schlott eine der besten Buchbesprechungen, die ich gelesen habe, zu Horst Samsons Der Tod ist noch am Leben,

Zu Matthias Buths Der Himmel über Philomena ‒ Auschwitz sieht uns an. Eine Anthologie zur Kulturgeschichte schreibt Barbara Zeizinger: „Für Matthias Buth ist Philomena mehr als eine Sintiza, die Auschwitz überlebt hat. Sie ist für ihn eine Mutter Courage. Daher hat er mit diesem Buch eine edition philomena eröffnet, in der er gemäß dem Satzungsauftrag des Philomena-Franz-Forums Texte der deutschen Kulturgeschichte in ihren europäischen wie regionalen wie ethnisch-spezifischen Bezügen publizieren wird. Gemeint sind Texte, die Courage, Entschiedenheit unter das Dach einer Kultur der Liebe und des Verzeihens stellen.“

Ewart Reders Rezension zu Sabine Doerings Friedrich Hölderlin. Biographie seiner Jugend sowie die Berichte aus der Kulturszene von Francisca Ricinski (Die Haut umschließt die Seele: Berlinde De Bruyckere und ihre Skulpturen, 3. Juli 2022 – 8. Januar 2023, Arp Museum, Bahnhof Rolandseck) und Widmar Puhl (Kosmopolitisch: Saisonauftakt des SWR Symphonieorchesters) runden dieses Heft ab.

Die vierte Ausgabe dieses Jahres ist auch fast fertig und wird in Kürze erscheinen. Hoffentlich werden wir uns demnächst nicht mehr für Verspätungen entschuldigen müssen.

Herzlich,
Ihr Traian Pop Traian

• Werner Kremm • Ein Gedicht für jede Jahreszeit • 50 Jahre Aktionsgruppe Banat • Anton Sterbling • Holdger Platta • Manfred Chobot • „Grenzen auszuloten, um sie überschreiten zu können …“ • Charlotte Ueckert • Dagmar Dusil • Der Himmel über Philomena • Auschwitz sieht uns an • Kurt Roessler • Theo Breuer • Literatour »22« • Matthias Buth • Wolfgang Schlott • Barbara Zeizinger • Ewart Reder • Helmuth Schönauer • Sylvia Unterrader • Widmar Puhl • Francisca Ricinski • Traian Pop Traian • Aleksander Nawrocki • Peter Gehrisch • Widmar Puhl •Traian Pop Traian • Mark Behrens • Philipp Ammon • Eva Filip • Wolfgang Schlott • Stefanie Golisch • Christoph Kleinhubbert • Harald Gröhler • Ortwin Beisbart • Uli Rothfuss •

Traian Pop Traian • Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter
50 Jahre Aktionsgruppe Banat
Werner Kremm • periamportreport / S. 11
Anton Sterbling • Verschlungene Erinnerungsfragmente . Assoziationen zu einer Stadt / S. 31
Anton Sterbling • Stichworte zur Aktionsgruppe Banat / S. 41

Holdger Platta • Neun Gedichte / S. 49
Manfred Chobot • Zehn Gedichte / S. 63
Manfred Chobot • Jurytätigkeit / S. 78
Manfred Chobot antwortet Dato Barbakadse fragt • „Grenzen auszuloten, um sie überschreiten zu können …“ / S. 88
Charlotte Ueckert • Bei die Fische . Prosa / S. 103
Dagmar Dusil • Haiku & Prosa . Der Wortmagier / S. 112

Der Himmel über Philomena • Auschwitz sieht uns an
Kurt Roessler • Roma-Schausteller in Literatur und Kunst der beginnenden Moderne bei Apollinaire, Picasso und Rilke / S. 117

Theo Breuer • L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« Teil 4 : Ein rostiger Klang von Freiheit – und mehr . Nach Norwegen reisen – mit Berg Holm, Brekke, Undset / S. 133
Theo Breuer • L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22« Teil 5 : Harald Gröhler … . Flüchtig vorgestellt anhand einer Reihe von Büchern / S. 144
Matthias Buth • Clara Schumann . Souvenir de Bonn et de Vienne / S. 167
Bücherregal
Wolfgang Schlott • „Gegen die Kraft der Poesie [aber] ist der Tod machtlos.“ . Horst Samson, Der Tod ist noch am Leben / S. 175
Barbara Zeizinger • Bei Philomena wird immer eine Tür geöffnet . Matthias Buth (Hg.), Der Himmel über Philomena ‒ Auschwitz sieht uns an. Eine Anthologie zu Kulturgeschichte / S. 179
Ewart Reder • Verseflüsterin . Sabine Doering kommt „Friedrich Hölderlin“ unfassbar nah / S. 183
Helmuth Schönauer • Manfred Chobot, Das Hortschie-Tier und die Lurex-Frau. Hyper-Texte / S. 186
Sylvia Unterrader • Manfred Chobot, „Hawai’i“ Mythen und Götter / S. 189

Aus der Kulturszene
Francisca Ricinski • „Die Haut umschließt die Seele“ . Berlinde De Bruyckere und ihre Skulpturen / S. 191
Widmar Puhl • Kosmopolitisch: Saisonauftakt des SWR Symphonieorchesters / S. 196

MATRIX 2/2021 (64)

MATRIX 2/2021 (64)

Zeitschrift für Literatur und Kunst

Ich mag keinen Exhibitionismus, aber ich habe trotzdem das Bedürfnis, die Kleider meines bescheidenen Ich wieder einmal fallen zu lassen. Des bescheidenen Ich, das so verrückt geworden ist, als Autor, Redakteur, Kolumnist – und was es sich sonst erträumt hat in seiner parallelen Welt – erneut vorstellig zu werden. Weil ich, wie schon so oft gesagt, zu danken habe, dass es mir erlaubt ist, dabei zu sein.

So wie mein Vater, der als Pilot für den Flug und die Passagiere verantwortlich war, es getan hat. Von ihm habe ich einen Traum geerbt: wie schön es sein kann, sich dem Willen des Himmels zu überlassen, auch wenn man Seiner Majestät dem Himmel manchmal aus der Hand rutscht. Genauso wie ich von ihm geerbt habe, dem Wunsch nachzugeben, selbst zu erfahren, was es heißt, den Flug für andere vorzubereiten, für ein Flugzeug und seine Passagieren einzustehen. Und das mehrmals wöchentlich, egal ob tags oder nachts, egal ob sommers oder winters, egal ob bei Hitze, Regen oder Schneesturm.

Eine Art, ein Flugzeug mit Passagieren anvertraut bekommen zu haben, scheint auch der Versuch zu sein, eine Literaturzeitschrift am Leben zu erhalten in einer Zeit, als Corona-Pandemie und Klimakatastrophe jedem Flugversuch entgegenstanden. Stimmt, unter Quarantäne gestellt zu werden, ist nicht gerade lustig. Um nicht missverstanden zu werden: Ich gehöre zu denen, die Impfen als einen Akt der Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gesellschaft sehen. Ich sage dies nicht, um den Überraschungseffekt, der die Passagiere dieses Fluges erwartet, zu verderben, sondern um eine Wahrheit zu wiederholen, die jeder kennt und die niemand hören möchte: Jene, ohne die eine Pandemie und eine Klimakatastrophe nicht existieren würden, sind wir. Nur wir, unabhängig davon, ob wir uns an Bord der Literatur und Kultur begegnen, für die es immer enger wird, oder – im Gegenteil – von deren Existenz keine Ahnung haben bzw. davon nichts wissen wollen.

Genauso wie die Literatur selbst ein Virus ist, gegen das weder Interesse noch Ignoranz, weder Gut- noch Böswilligkeit, weder Armut noch Reichtum, weder persönliche Schwäche noch politische oder militärische Macht und auch nicht die Literatur selbst, die sich so oft für Pfennige prostituiert hat, bisher ein Gegenmittel gefunden haben. Trotz unzähliger Versuche. Von der Inhaftierung bis zum Verbot, ja bis zur raffinierten wirtschaftlich oder politisch korrekten Behandlung.

Dass sich hinter der wirtschaftlich oder politisch korrekten Behandlung von Pandemie und Klimakatastrophe auch eine unfaire Art, mit Literatur umzugehen, verbirgt, ist längst keine Neuentdeckung mehr. Genauso wie die politisch korrekte Behandlung der Literatur eine Katastrophe für Literatur selbst ist. Wenn immer mehr „Literaturfreunde“ sich berechtigt fühlen, mir unbedingt beizubringen, dass z. B. Schneewittchen von Rassismus und Diskriminierung oder Rotkäppchen von Sexismus geprägt seien.
Soll mein Ich, obwohl es zu seiner Männlichkeit steht, aber nicht an Sex denkt, wenn es sich an Rotkäppchen erinnert, soll mein Ich dieses wunderbare Märchen mit seinen Lehren über Gut und Böse, über Naivität und Realität, über Recht, Unrecht und Gerechtigkeit, das meine Kindheit begleitet hat, einfach vergessen? Und Schneewittchen zukünftig außer Acht lassen? Muss ich nun annehmen, dass das wirtschaftlich und politisch korrekte Benehmen uns selbst erfasst hat? Erfasst nicht, aber eingeholt schon, flüstert mir eine berühmte Romanfigur ins Ohr.

Pragmatisch wäre also, in das Flugzeug, das ich unbedingt in Betrieb halten möchte, die Geimpften, Genesenen oder Nicht-Infizierten einsteigen zu lassen. Da ich aber mit Pragmatismus nichts am Hut habe, wähle ich die Passagiere immer noch nach Kriterien aus, die ich mir selbst angesichts der allgemeinen Befindlichkeiten kaum einzugestehen wage. Ist das ein Zeichen dafür, dass meine Finger voller Viren sind? Trotz des Versuchs eines EU-Werbespots, mir beizubringen, wie ich meine Hände korrekt waschen muss? Gott sei Dank drängt sich nicht alles als Vorschrift auf, manches ist nur als Geschenk zu bekommen …
Denn was hätte die Dame aus dem Werbespot mit der Tatsache anfangen können, das z. B. unser georgischer Autor Dato Barbakadse eine „türkische Pizza“ isst „in einem ärmlichen Café in Kopenhagen, Hauptstadt Österreichs / mit ein paar nicht so schlechten Aussichten auf den Seine-Fluss“? Hätte sie eine Probe an die Behörde geschickt, um die Virenbelastung festzustellen?
Und wie hätte das RKI die Tatsache eingestuft, dass Christa Wißkirchen „Vatermutter“ sagt statt „Mamapapa“ und „Erzeuger“ statt „Eltern“ und „Projektion“ statt „Liebe“ und „System“ statt „Schule“ und so weiter und so weiter?

Europa hätte bestimmt Selbstanzeige erstattet, wäre aus dem Zentrum Zentraleuropas zu ihr gedrungen: „Die Anarchisten haben ihre Knallfrösche vergessen (und die Fahnenträger laufen ohne Fahnen / einzeln über den leeren Platz / wo der Volksredner von einer Säule herab / per Liveschaltung seine Zuhörer anfleht / nicht das Haus zu verlassen.)“, wie Thomas Böhme uns gerade mitteilt, während Michael Denhoff von countertimecounter sagt, dass die Komposition immer lebendiger werde trotz der Absicht, der mittlerweile so genannten ,Corona-Krise‘ (die in seiner Wahrnehmung vielmehr eine globale Gesellschafts- und Systemkrise – mit in mancherlei Hinsicht geradezu kafkaesken Zügen – geworden sei) keinen Zutritt in seine künstlerische Arbeit zu erlauben.

Der Gemeinplatz ist allseits bekannt: Was soll der Träumer, wenn heute Pragmatiker und Problemlöser gefragt sind? Wer glaubt im Ernst, dass Lawrenti Ardasiani kein Träumer war, als er in Tiflis die Verwandlung und Europäisierung mit all ihren karnevalesken Zügen akribisch beobachtet und literarisch gestaltet hat? Man könnte auch meinen, Matthias Buth wäre ein Verwalter der Ungerechtigkeit, die immer noch unsere Zeit prägt, Barbara Zeizinger und Rainer Wedler wären Puppenspieler, die sich selbst manövrieren, Silvia Schreiber eine unsichtbare Mitbewohnerin in unseren Wohnungen, Körpern, Gedanken. Und die Rezensenten: viel zu indiskrete Leser, die viel zu diskret über die eigenen Entdeckungen berichten. Den Editorial-Unterzeichner sollte man lieber vergessen: Er spottet jeder Vorstellung von gesundem Menschenverstand. Der einzige Zeitzeuge dieser Ausgabe, der das Schreiben zu seinem Hauptberuf gemacht hat, Hans Todt, mahnt: „In der heutigen Zeit des Internets finde ich es wichtig, dass junge Menschen überhaupt lesen.“

So könne aber keine Identität als Literaturgemeinde entstehen, die integrieren soll statt ausschließen, meldet sich die schon erwähnte Romanfigur zu Wort und fügt hinzu: Dieser Flug findet bestimmt nicht mehr statt. Doch, antworte ich, während die unentschlossene Jahreszeit die Unterwäsche von Rotkäppchen in meinem Handgepäck sucht, nachdem sie mir den Reisespiegel überreicht hat, in dem Schneewittchen sich schminkte, damit ich mich selbst davon überzeugen kann, dass ihr Negativ-Test gefälscht war. Ich finde aber keinen Grund zu feiern, obwohl mein Ich mich aus dem Spiegel ohne FFP2-Maske anstarrt.

Ich halte ihm das Blatt Papier unter die Nase, auf dem ich gerade begonnen habe, den Leitartikel dieser Ausgabe zu schreiben:

„… ich werde dich nie wiedersehen. So viele Tode / warten auf dich“, schreit Matthias Buth mit einem Vers von Adam Zagajewski, „und dann / der tod / zu jeglicher schönheit entschlossen“, zitiert er weiter, diesmal aus einem Gedicht von SAID. „Ruf leise: Strudirella. Wenn dann eine Nixe aus dem Wasser schaut, ist sie deine Ur-Ur-Ur-Ur-Urgroßtante“, antwortet ihm Herwig Haupt. „Auf einem Bild fährst Du unter Wasser mit dem Rad zur Kirche, liebe Irene Klafke“, denkt Christine Kappe, während sie sich mit dem Fahrrad auf den Weg zur Trauerfeier macht. Wollten sie vielleicht Strudirella treffen?

Eine gute Reise hätte ich allen Entschwundenen wünschen wollen, aber meine Stimme macht nicht mit. Ich bin jedoch sicher, dass sie mich hören. Und selbst wenn es nicht so sein sollte, ist es wichtig für mich und Sie, die diese Zeilen lesen, das zu glauben.

Es ist bereits Oktober und die MATRIX-Sommerausgabe endlich druckreif …

Traian Pop

• Dato Barbakadze • Christa Wißkirchen • Thomas Böhme • Michael Denhoff • Lawrenti Ardasiani • Bela Tsipuria • Matthias Buth • Herwig Haupt • Ulrich Bergmann • Christine Kappe • Irene Klaffke • Rainer Wedler • Was und wie viel wurde bzw. wird uns täglich mit auf den Weg gegeben? Was und wie viel davon wollen und können wir tragen bzw. ertragen? • Hans Todt • Barbara Zeizinger • Silvia Schreiber • Christel Wollmann-Fiedler • Wolfgang Schlott • Tania Gensfett • Uli Rothfuss • Katharina Kilzer • Stefanie Golisch • Dieter Mettler • Traian Pop •

Inhalt

Traian Pop • Editorial / S.4

Die Welt und ihre Dichter

Ein Gedicht für jede Jahreszeit
Dato Barbakadse • genius loci / S. 9

Christa Wißkirchen • Sechs Gedichte / S. 12
Thomas Böhme • Fünf Gedichte / S. 18
Michael Denhoff • countertimecounter / S. 26
Dato Barbakadse • 64 Haiku / S. 33
Luka Bakradse • Haiku-Kränze / S. 47
Beka Barkaia • Die kombinatorische Poesie Akira Mikitos / S. 49
Lawrenti Ardasiani • Solomon Isakitsch Medschghanuaschwili . Auszug / S. 53
Bela Tsipuria • Verwandlung, Europäisierung und Karnevalität von Solomon Isakitsch und Tiflis / S. 65
Matthias Buth • Lemberg ist Poesie – wie alle Heimat . Zum Tod von Adam Zagajewski / S. 79
Matthias Buth •Auf dem Rückweg vom Tod . In Deutschlands Sprache . In Memoriam SAID / S. 83
Herwig Haupt • Zwölf Gedichte / S. 89
Herwig Haupt • Das Märchen vom Nixenstein . Prosa / S. 104
Ulrich Bergmann • In memoriam Herwig Haupt / S. 119
Christine Kappe • Irene Klaffke, bildende Künstlerin, 1945 – 2021 – ein Nachruf in Briefform / S. 123
Rainer Wedler • Die Versuche des Rudolph Anton R. . Auszug / S. 127
Barbara Zeizinger • Herzwurzeln / S. 145

Zeitgeschichte
Was und wie viel wurde bzw. wird uns täglich mit auf den Weg gegeben? Was und wie viel davon wollen und können wir tragen bzw. ertragen?
Hans Todt • Ich kam aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Cherbourg und stand ohne alles da / S. 157

Atelier
Silvia Schreiber • Du siehst mich nicht . Prosa / S. 160

Bücherregal
Christel Wollmann-Fiedler • Die Reise des Wasserzeichens / S. 177
Wolfgang Schlott • Dato Turaschwili, Das andere Amsterdam / S. 179
Tania Gensfett • Die dämmernde außerterrestrische Leiter ins All . Gedichte von Ágnes Nemes Nagy (1922-1991) / S. 181
Uli Rothfuss • Kultur und Freiheit . Ein Buch von Roland Bernecker
und Ronald Grätz (Hg.) / S. 185
Matthias Buth • Der Worterheller aus Rumänien . Gott weiß mich hier. Radu Carp im Gespräch mit Eginald Schlattner / S. 187
Matthias Buth • Ännchen singt weiter, nicht nur in Königsberg . Klaus Ferentschik, Kalininberg & Königsgrad: Große Miniaturen / S. 191
Katharina Kilzer • Am Ende des Tunnels Licht – Tamara Labas’ Gedichtband Durst der Krieger – Liebesgedichte / S. 194
Stefanie Golisch • Es geht immer weiter. Zu Dato Barbakadses Und so weiter. Sieben Haiku-Kränze / S. 197
Dieter Mettler • Rainer Wedler, Die Versuche des Rudolph Anton R. / S. 199

MATRIX 4/2014 (38) • Esma Oniani

M38Was Sie gerade lesen, sind nur geklonte/geklaute Zeilen aus einem langen Brief an einen Kulturminister, der vor etwa drei Wochen an den Börsenverein sowie einige Zeitungen ging.
Eine Reaktion darauf habe ich nicht mitbekommen, deshalb denke ich, dass selbst eine Skandalentscheidung hinsichtlich einer Preisverleihung nicht so viel graues Licht werfen wie eine noch viel grauere literarische Landschaft schlucken kann. Es ist unerklärlich, schier unglaublich, aber trotzdem wahr, was da – wieder einmal, muss man sagen – passiert ist.

Ich gehe weder von gehörigem Unwissen noch von hochgradigem Desinteresse der Juroren aus und genauso wenig wie gezielter Korruption, obwohl es ganz danach aussieht, so abwegig ist deren ,Richtspruch‘. Da wird die Literatur förmlich vom hohen Gerüst gestürzt und ein Popanz von Verlag als Polier auf die Bretter weit über den Köpfen projiziert. Was für eine Kulturschande!

Diese Entscheidung Jahr für Jahr Ignoranten überlassen? Wie lange soll das unwidersprochen fortdauern? Künftig sollten Sachverständige in diese Entscheidung aktiv eingebunden sein, anstatt die Köpfe in den Sand zu stecken und so haarsträubende Verdikte zu akzeptieren, wenn Dichterland und öffentliche Gelder beteiligt sind.

Nun, da die Katze aus dem Sack ist und tot im Dreck liegt, sind Kreativität und offensiver Umgang mit solch grober Fehlentscheidung gefragt, will heißen, der Geschädigte hat eine Wiedergutmachung für den zugefügten Schmerz und die ungerecht erlittene Schmach verdient, und sei es auch nur in Form einer Entschuldigung. Am segensreichsten wäre es freilich für die Literatur des schönen, sich mit einer wahrlich großen dichterischen Vergangenheit schmückenden Ländle, ein rühmliches Projekt zu fördern anstatt eines belanglosen – man höre und staune – „mit Buchideen zum amerikanischen Transzendentalismus“, was immer das sein mag.

Dass das Kulturministerium da nicht rebelliert, sondern mitspielt, ist dabei mehr als nur erstaunlich.
Dass das verschlafene Leitungsgremium des dichterländlichen Verbandes deutscher Schriftsteller da nicht kritisch seine Stimme erhebt, ist die nächste Katastrophe.

„Nun, da die Katze aus dem Sack ist und tot im Dreck liegt“, wollte ich von Editorial, Zeitschrift und Literatur nichts mehr wissen. Wolle aber und mache das, wer kann …

Ich bin mächtig, ich bin nichts…

Eines allerdings sollte dem Literaturbetrieb niemand ankreiden: dass man sich nicht ausreichend mit Georgiens literarischer Landschaft auseinandergesetzt habe. Als einen ersten Tropfen auf den heißen Stein sehen wir daher den Versuch, eine Grande Dame der georgischen Literatur und Kunst vorzustellen: Esma Oniani. Jörg Alexander Henle erinnert sich an seine erste Begegnung mit deren bildkünstlerischem Werk: Ein Feuerwerk in Rot empfing den Besucher, der von der Straße in die Gemäldegalerie eintrat. (…) Die Bilder von Esma Oniani waren Flammen, die Wasser nicht löschen konnte. Was sie ausstrahlten, war Kraft. Kraft und Zärtlichkeit. 60 Jahre alt war die Künstlerin, die 1999 starb. Wir denken an „Blau“, wenn wir den Namen Yves Klein hören. Von nun an werde ich an Esma Oniani denken, wenn ich „Rot“ höre. Wir laden Sie ein, die georgische Schriftstellerin und Malerin kennenzulernen: mit Gedichten, Gedanken über die Poesie, Zeichnungen und Bildern ab Seite 7.

 »Fetzchen« ∙ It’s Mayröcker Time

Mit Ștefan Aug. Doinaș wollen wir der deutschsprachigen Leserschaft den Blick ins Werk eines der prominenten Akteure der gegenwärtigen Literatur aus Rumänien vermitteln. Mit einem Essay von Theo Breuer feiern wir Friederike Mayröcker, eine der markantesten literarischen Stimmen der heutigen Zeit, die am 20. Dezember 90 Jahre jung wird.

Die Monde der gelben Mitte

Unser China-Korrespondent Ulrich Bergmann berichtet in seiner Reihe „Die Monde der gelben Mitte“ über „Qingdao – eine neue Welt und drei chinesische Parabeln“. Das Atelier präsentiert Gedichte von Rainer Maria Gassen, Wolfgang Schlott und Elke Engelhardt sowie Prosatexte von Mark Behrens, Sabine Bentler und Alex Judea, dazu einen Theaterstück-Auschnitt von Christian Knieps.
Das Bücherregal dieser Ausgabe schmücken aufschlussreiche Rezensionen. Es signieren: Edith Ottschofski, Wolfgang Schlott, Rainer Wedler, Uli Rothfuss, Willi van Hengel, Klaus Martens, Elke Engelhardt, Dieter Mettler und Stefanie Golisch. Wolfgang Schlott besuchte Yuri Alberts Ausstellung im Bremer Museum für moderne Kunst, Weserburg. Und Barbara Zeizinger berichtet im Forum über unsere Präsenz auf der Frankfurter Buchmesse 2014 sowie über die Verleihung des Gerhard-Beier-Preises an unseren Mitstreiter Horst Samson.

Liebe Leserinnen und Leser, falls ich Sie mit meinen einleitenden Gedanken belastet oder sogar belästigt haben sollte, tut mir das leid, aber ich denke, dass eine freie Meinungsäußerung unserem Literaturleben nicht schaden kann. Mag sein, dass nicht alles so grau ist, wie es manchmal aussieht. Doch nichts zu sagen, das bringt nichts. Sich aber über irgendwelche Entscheidungen einiger Preisrichter zu ärgern, statt sich mit Literatur und Kunst zu befassen, das ist auch nicht richtig – das gebe ich an dieser Stelle offen zu. Es gibt Besseres zu tun.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine gute, versöhnliche Weihnachtszeit und einen gelungenen Start ins neue Jahr!

Herzlich,
Traian Pop

Es signiert:

• Esma Oniani • Dominik Irtenkauf • Jörg A. Henle • Ștefan Aug. Doinaș • Theo Breuer • Rainer Maria Gassen • Sabine Bentler • Uli Rothfuss • Mark Behrens • Elke Engelhardt • Rewas Twaradse • Edith Ottschofski • Ulrich Bergmann • Willi van Hengel • Rainer Wedler • Stefanie Golisch • Dieter Mettler • Wolfgang Schlott • Alex Judea • Christian Knieps • Traian Pop • Klaus Martens • Barbara Zeizinger •

Matrix 3/2015 (41) • Nikolaus Berwanger


MATRIX_41_A
…Was würden wir rumänischsprachigen Schriftsteller / ohne die deutschsprachigen anfangen, / fragte sich Mariana Marin … (Wir sind frei), schrieb ich 1998, fünfzehn Jahre später.

Nikolaus Berwanger war damals für mich kein Unbekannter, aber er zählte nicht zu jenen, an die ich dachte, als ich am Schluss der Preisverleihung des Schriftstellerverbandes meinen Freund, den berühmten Literaturhistoriker und Kritiker Cornel Ungureanu, nach den nicht anwesenden deutschsprachigen Autoren fragte, ohne eine Antwort zu erwarten, denn allen war bereits klar, „dass die Deutschen uns für eine bessere Welt verlassen“: Den Anfang hatte doch schon der große Protektor Berwanger selbst gemacht. Ich war damals von den Texten der deutschen Kollegen begeistert – ohne Deutsch zu können –, da sie zum Großteil als Interlinearversionen für mich zugänglich waren. Dennoch wusste ich, dass sich hinter Berwangers prächtiger Gestalt, die mir ab und zu – dank meines Nebenjobs bei einer Literaturzeitschrift – über den Weg lief, viel mehr verbarg, als von außen zu sehen war: Mundartschriftsteller und höherer Parteifunktionär – echte Schimpfworte für uns, die wir gegen die Tradition und die Parteilinie schwammen –, dessen Position (mit den dazugehörigen Beziehungen) ihm ermöglichte, alles zu erledigen; ein Opportunist, der sowohl von den Deutschen (Westen inklusive) als auch von den Rumänen alles verlangte und bekam. Was für ein Kurzschluss, was für ein Irrtum!
Seine Texte sowie die Aussagen vieler Zeitzeugen, die Horst Samson – de facto Herausgeber dieser MATRIX-Ausgabe – hier gesammelt hat, bestätigen nun nicht nur, wie wichtig für mich und meine rumänischen, ungarischen, serbokroatischen Kollegen der Kontakt zu den deutschsprachigen war (lesen Sie dazu die Beiträge von Mária Pongrácz, Ildico Achimescu, Pia Brînzeu), sondern auch, dass ich ein besonders großes Glück gehabt habe, in der Nähe solcher Persönlichkeiten zu leben. Nun, da Nikolaus Berwanger in diesen Tagen 80 Jahre alt geworden wäre, versuchen wir – wie Richard Wagner, einer der besten Schriftsteller, die ich kenne, schreibt –, „etwas in Gang zu setzen“: „Es geht auch um die Lehren, die aus dem Blick auf das Leben eines Nikolaus Berwanger zu ziehen sind. Wenn ein Berwanger im Zeichen der Kontrolle und des Verbots etwas in Gang setzen konnte, so sollten auch wir, die wir jetzt im Zeichen der Verführung leben, der Manipulation, etwas bewegen können.“
Sie werden es uns bestimmt nachsehen, dass dieses Heft so umfangreich geworden ist – doch wenn wir alles, was wir zunächst sammelten, veröffentlicht hätten, wäre es mehr als doppelt so dick geworden. Wir hoffen, dass wir mithilfe der Texte von Nikolaus Berwanger, von den schon genannten beiden Autoren sowie von Karin Berwanger, Paul Schuster, Sigrid Eckert-Berwanger, Walter Engel, Eduard Schneider, Annemarie Podlipny-Hehn, Annemarie Schuller, Luzian Geier, Heinrich Lay, Hans Stemper oder Halrun Reinholz – neben Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern haben sich auch Verwandte, Bekannte, Freunde und Leser zu Wort gemeldet – „etwas bewegen können“.

»Auswertung der Flugdaten« · Notizen zu Thomas Kling

Theo Breuer erinnert mit seinen „Notizen zu Thomas Kling“ an den vor zehn Jahren verstorbenen Dichter. Anlässlich von Axel Kutschs 70. Geburtstag am 16. Mai 2015 veröffentlichen wir – von Theo Breuer ausgewählt – sieben Gedichte aus „Versflug“, dem jüngst erschienenen neuen Gedichtband. Herzlichen Glückwunsch, Axel Kutsch! Und unser kürzlich gefeiertes Geburtstagskind Dieter P. Meier-Lenz stellt uns Lola vor: in einem Gespräch und acht Gedichten.

Daxue und Zhongyong – Die Große Lehre, Maß und Mitte

Mit „Daxue und Zhongyong – Die Große Lehre, Maß und Mitte“ sucht Ulrich Bergmann uns das von ihm erlebte China nahezubringen. Und Christine Kappe, Rainer Wedler, Eric Giebel, Wolfgang Schlott, Uli Rothfuss und Stefanie Golisch runden diese Ausgabe mit Essays und Bücherbesprechungen ab.

Am 13. April starb Günter Grass, kurz nachdem er es geschafft hatte, sein letztes Manuskript – keinen Roman, sondern ein Experiment, eine Mischung aus Prosa und Dichtung – „druckfertig“ zu haben. Der Abschied von einem deutschen Gegenwartsautor, der nicht nur mit seiner Literatur auch außerhalb Deutschlands für Wirbel gesorgt hat, erfolgte unterschiedlich – obwohl ausnahmslos unter dem Motto: „De mortuis nil nisi bene.“ Nun, da der politische Provokateur und künstlerische Workaholic nicht mehr da ist, bleibt uns – die wir ihn oft nur noch unter polemischen Stichworten von „Waffen-SS“ bis hin zu „Was gesagt werden muss“ und „Europas Schande“ wahrgenommen haben – zum Glück nichts anderes übrig, als seine Bücher erneut aufzuschlagen. Von der „Blechtrommel“, dem „Big Bang“ der deutschen Nach-kriegsliteratur, bis zu „Hundejahre“, seinem „ungelesensten“ Roman, wie Denis Scheck in einem Interview anmerkt: „Ich habe jedenfalls noch keinen Mitarbeiter des WDR getroffen, der weiß, dass das letzte Drittel von ,Hundejahre‘ im Wesentlichen von einem Redakteur des WDR handelt, der in Köln-Marienburg lebt und dort Talkshows moderiert. Und Grass war immer jemand, der sich der Medienwirklichkeit sehr früh bewusst war, und das auch literarisch reflektierte. Und lesen Sie mal das letzte Drittel der ,Hundejahre‘; das ist ein Roman über das Deutschland des Jahres 2015. Da kann man Gänsehaut bekommen.“
Schwer fällt uns auch, den Verlust von Hans Bender als unwiderrufliche Tatsache zu akzeptieren. Der Autor und Mitbegründer der renommierten Literaturzeitschrift „Akzente“ war zudem Herausgeber der „Konturen – Blätter für junge Dichtung“ sowie zahlreicher Anthologien, u. a. „In diesem Lande leben wir. Deutsche Gedichte der Gegenwart“ von 1978. „Das war das Logbuch, das war der richtungsweisende Band, wo man sich über die neueste Lyrikproduktion informieren konnte“, so DLF-Literaturredakteur Hajo Steinert.
Diese Ausgabe schließt mit zwei Texten von Theo Breuer im Gedenken an Hans Bender und Günter Grass.

Ihr
Traian Pop

• Horst Samson • Nikolaus Berwanger • Richard Wagner • Theo Breuer • Axel Kutsch • Dieter P. Meier-Lenz • Ulrich Bergmann • Karin Berwanger • Sigrid Eckert-Berwanger • Walter Engel • Eduard Schneider • Mária Pongrácz • Paul Schuster • Ildico Achimescu • Pia Brînzeu • Annemarie Schuller • Luzian Geier • Heinrich Lay • Annemarie Podlipny-Hehn • Hans Stemper • Halrun Reinholz • Christine Kappe  • Uli Rothfuss • Eric Giebel • Stefanie Golisch • Rainer Wedler • Wolfgang Schlott • Harald Gröhler • Rainer Wedler • Wolfgang Schlott • Gert Weisskirchen • Uli Rothfuss •

Matrix 4/2015 (42) • Hans Bergel

 

M_42 „… Was würden wir rumänischsprachigen Schriftsteller / ohne die deutschsprachigen anfangen, / fragte sich Mariana Marin … (Wir sind frei)“, schrieb ich 1998, fünfzehn Jahre später.

„In seinem Werk daheim“ Hans Bergel

Als ich diese Verse zu Papier brachte, dachte ich nicht an Hans Bergel, auch wenn ich ihn inzwischen kennengelernt hatte – indirekt, durch den ersten Übersetzer meiner Gedichte, Georg Scherg. Dies ist im vorliegenden Kontext natürlich unerheblich, und ich muss gestehen, dass ich ihn heute genauso wenig kenne wie sein Werk – denn die paar Bücher und Texte, die ich von ihm gelesen habe, ändern kaum etwas an dieser Tatsache. Allerdings war mir klar, dass sich eine MATRIX-Ausgabe unbedingt auch mit ihm auseinandersetzen sollte. Warum? Auf jeder Seite des über 250 Seiten umfassenden Teils zu Hans Bergel findet sich eine Antwort darauf – die bestimmt auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, entdecken werden: in den zahlreichen Gedichten und Prosastücken, in den Essays, Briefen, Tagebuchfragmenten und Privatfotos sowie Plakaten, Laudationes und Porträts, die um Hans Bergel kreisen.

„Mein Leitspruch, den ich mir seit Jahrzehnten täglich vorsage, gilt als sein berühmtester Satz. Er lautet – Sie wissen es –: ,Ich weiß, dass ich nichts weiß.‘ Das bedeutet für mich: Ich weiß, dass ich täglich von vorne beginnen und alles auf eine Karte setzen muss, ohne mir des Ausgangs sicher zu sein. Alles, was ich in meinem Leben wollte und über diese Stunde hinaus will, verstehe ich als Handwerker, dessen einziges Streben es ist, saubere Arbeit abzuliefern. Als ein Handwerker an der unbeschreiblich schönen deutschen Sprache.“

So Bergel über Bergel.

Dass – wie Horst Samson, der unermüdliche Redakteur des Schwerpunktes Hans Bergel, sein Geleitwort beendet – „,der Mann ohne Vaterland‘ […] nicht wirklich unbehaust, sondern […] buchstäblich in seinem Werk daheim [ist]“, ahnte ich bereits. Nun sehe ich mich also aufgefordert, ihn zu Hause in seinem Werk zu besuchen. Eingeladen hat er uns schon immer.

Besucht haben ihn auf jeden Fall einige unserer Zeugen seines Weges: Horst Samson, Peter Motzan, Ana Blandiana, Katharina Kilzer, Siegbert Bruss, Peter Paspa, Susanne Schunn, Leonid Balaclav, um nur einige zu nennen. Sonst hätten wir diese Ausgabe gar nicht zusammenstellen können.

In diesem Heft möchten wir Balthasar Waitz zum sechzigsten Geburtstag gratulieren mit einer kleinen Auswahl aus seinen sehr eindrucksvollen Gedichten sowie einem Essay von Cosmin Dragoste keiner hört sie keiner sieht sie über ihn und sein Werk.

Nikolaus Berwanger wäre in diesem Jahr achtzig geworden. Ergänzend zu unserer ihm gewidmeten Ausgabe (Nr. 41) veröffentlichen wir hier noch einen Essay über ihn von Cornel Ungureanu, einem der renommiertesten rumänischen Literaturkritiker.

…wohl nicht sein „letztes Gedicht“ Dieter P. Meier-Lenz

Am 01.07. starb Dieter P. Meier-Lenz, kurz nachdem er uns seine letzten Texte zur Veröffentlichung angeboten hat, die in der vorherigen Ausgabe erschienen sind. In dieser Ausgabe gedenken wir seiner mit einem Gedicht aus seinem letzten Band („hirnvogel. Ausgewählte Gedichte 1990–2014“. Mit 7 Zeichnungen von Brigitte Kühlewind Brennenstuhl, Pop Verlag, 2014), das mit folgenden Versen schließt:

„kein inhalt und ohne gewicht
und schon im entstehen zersprungen
so endet mein letztes gedicht“

Es war wohl nicht sein „letztes Gedicht“, sondern eines der letzten. Wir trauern um ihn – voller Dankbarkeit, ihn unter uns gehabt zu haben –, und nehmen uns vor, sein Werk weiterhin bekannt zu machen. Dazu trägt ein Text von Andreas Noga bei, der ihm – wie viele von uns – nahegestanden hat.

Politische Cartoons in Maos China

Mit seinem Beitrag „Politische Cartoons in Maos China“ führt Ulrich Bergmann eine weitere Facette des fernöstlichen Staates vor Augen. Unser „Atelier“ bietet diesmal Essays, Aphorismen, Gedichte und Prosa von Maximilian Zander, Stefanie Golisch, Franz Hofner, Katja Kutsch, Raluca Naclad und Herwig Haupt. Buchbesprechungen von Katharina Kilzer, Elke Engelhardt, Wolfgang Schlott, Andreas Rumler und Stefanie Golisch runden diese schon wieder überbordende Ausgabe ab – und eine Nachricht, die uns gerade aus Rumänien erreicht hat: Unsere Chefredakteurin Francisca Ricinski wurde zum „Botschafter der Poesie“ ernannt. Wir gratulieren und freuen uns schon auf ihre nächsten Beiträge!

Ihr
Traian Pop

Es signiert:

• Horst Samson • Hans Bergel • Peter Motzan • Dieter P. Meier-Lenz • Ana Blandiana • Renate Windisch-Middendorf •Peter Paspa • Cornel Ungureanu • Balthasar Waitz • Ulrich Bergmann • Cosmin Dragoste • Andreas Noga • Maximilian Zander • Stefanie Golisch • Franz Hofner • Katja Kutsch • Raluca Naclad • Herwig Haupt • Katharina Kilzer • Elke Engelhardt • Andreas Rumler • Wolfgang Schlott •